Am 21. September durfte ich Teil der 4. Kamener Schulgespräche sein. Alexandra Grund und Daniel Füller von der Gesamtschule in Kamen haben eine wichtige Veranstaltung zur Schulentwicklung gestaltet und organisiert. Vielen Dank für das großartige und außerordentliche Engagement! Den Kern der Veranstaltung bilden eine Ausbildungsmesse für Schülerinnen und Schüler und eine Bildungsmesse mit Workshops für Lehrkräfte. Ich habe zwei Workshops gehalten und wieder einmal erfahren, wie wichtig solche Veranstaltungen zur Vernetzung sind. Denn getreu dem Motte der Schulgespräche: „Gemeinsam machen wir Schule besser“, stellte ich auch in Kamen fest: „Wir werden mehr!“ Flankiert wurde die Veranstaltung durch drei inspirierende Eröffnungskeynotes von Steven Bauer, Katja Glasmachers und Lydia Clahes und einem wunderbaren Abschluss durch Stefan Ruppaner. Vielen Dank für den tollen Tag in der kleinen und feinen Hansestadt Kamen, es war mir wirklich ein Vergnügen.
Wie versprochen und wie immer, hier die beiden Vorträge zu den Workshops:
Dr. Anika Limburg, Direktorin des Bildungscampus Saarland, und Joscha Falck, Mittelschullehrer an der Mittelschule Rednitzhembach und Schulentwicklungsmoderator, haben unter dem Hashtag #kAIneEntwertung eine Blogparade ins Leben gerufen. Inhalt ist ein gemeinsames Nachdenken über menschliche Leistung und KI. Mehr zum Hintergrund und Links zu den Teilnehmenden an der Blogparade gibt es hier.
Ich habe mich bewusst entschieden, diesen Beitrag ko-kreativ mit KI zu erstellen. Natürlich entwertet dies meinen „Werkstolz“ (vgl. Beitrag von Reinmann & Vohle), aber eben auch nicht so ganz. Die Grundidee (Marx und die Frankfurter Schule) kam ja von mir und treibt mich auch schon länger um. Außerdem wäre die Ko-Kreation ohne mein individuelles Vorwissen nicht möglich gewesen. KI-Text ist, abgesehen vom Teaser, kursiv gedruckt. Um mein Fazit vorwegzunehmen: Der Einzug von KI in die Arbeitswelt gehört zu den großen Disruptionen in der Weltgeschichte, ist aber nicht deren Endpunkt und schon gar nicht deren Untergang. KI ist ein Beschleuniger für bereits länger angelegte Prozesse, sie befördert exponentielle Veränderungsprozesse (Meinen Blick auf KI und die damit verbundenen Herausforderungen für Schule habe ich bereits hier in Grundzügen dargestellt). Mein Beitrag hat einen philosophisch-soziologischen Schwerpunkt. Ich hoffe damit den Diskurs aus dieser Perspektive bereichern zu können.
ChatGPT fasst die Inhalte der bisherigen Beiträge (Stand 27.09.2025) folgendermaßen zusammen: „Die Beiträge der Blogparade liefern ein differenziertes Bild: Bei aller berechtigten Besorgnis über Entwertung – insbesondere symbolischer, identitärer und affektiver Dimensionen – findet sich auch ein starker Wunsch, aus der Veränderung eine Chance zu machen. Statt in eine Haltung der Gegenwehr zu verfallen, schlagen viele Autor:innen vor, Begriffe, Formate und Kulturen so umzudenken, dass KI-unterstützte Produktion nicht automatisch als Abkürzung disqualifiziert wird, sondern als legitimer Anteil einer Leistung, sofern klar reflektiert, bewertet und verantwortet. Das zentrale Spannungsfeld lautet: Wie viel Technik darf, wie viel Mensch muss? Und wie erhalten wir Würde, Sinn und Motivation in der Leistung, wenn vieles automatisiert erscheint?“
Genau diese Fragestellung brachte mich (wieder einmal) auf die Spur von Marx und der Frankfurter Schule. Marx Werk ist eine Antwort auf die entstehende Moderne in Wirtschaft und Gesellschaft, ihm geht es um Produktionsverhältnisse und Klassenfragen. Die Frankfurter Schule überträgt diese Gedanken in die jüngere Moderne und fokussiert auf Kultur und Gesellschaft.
KI und Marx
Der Gedanke der „Entfremdung“ bei Marx wird durch KI wieder brandaktuell. Marx beklagte, dass sich der Arbeiter von seinem Werk entfremdet, weil dieses einer arbeitsteiligen Logik unterworfen wird und so das Werkstück als Teilprodukt eine Identifizierung mit dem Gesamtprodukt verhindert. Außerdem gehört das Produkt am Ende dem Besitzenden der Produktionsmittel. Die Frage des Besitzes von KI-Produkten ist noch im Klärungsprozess, aber es lässt sich festhalten, dass es, wie in vielen Beiträgen der Blogparade beschrieben, am Ende eine abstrakte Distanz vom Schöpfungsprozess eines KI-Textes oder KI-Bildes gibt. Somit ist auch fraglich, ob Marx einem KI-Produkt die Schaffung eines Mehrwertes zugestehen würde, da der Schöpfungsprozess nicht mit einem wirklichen Erarbeitungsprozess in Form von klassischer Werkarbeit verbunden ist. Gleichzeitig lässt sich aber durchaus argumentieren, dass der Entstehung eines KI-Produktes doch tatsächliche Arbeitsprozesse vorausgehen, schließlich wurde das LLM entwickelt, programmiert und trainiert, und nicht zu vergessen, von zahlreichen Click-Workern justiert. Es steckt also doch Arbeit in einem KI-Produkt, sogar Ausbeutung im klassischen Sinn. Und damit sind wir mitten in der ethischen Diskussion um KI. Auch diese Technologie unterliegt Ausbeutungsprozessen von Mensch und Natur und entwertet menschliche Leistung. Gleichzeitig setzt sich, marxistisch gedacht, eine Form des Klassenkampfes fort. Es gibt privilegierte Klassen mit Zugang zu KI-Werkzeugen und deren Produktionspotenzial und es gibt Menschen, die sich den Zugang zu den spezialisierten und effektiven Tools nicht leisten können oder sogar für deren Training ausgebeutet werden. Außerdem liegt der tatsächliche Besitz der KI-Produktionsmittel in den Händen weniger Tech-Firmen und verschafft diesen nicht zu unterschätzende Macht. Letztlich kann es passieren, dass KI viele Arbeitsplätze überflüssig macht, wie einst die Maschinen in der Industrialisierung, und so eine neue Verelendung der Massen erfolgt. Das muss in Schule thematisiert werden!
KI und die Frankfurter Schule
Adorno und Horkheimer als zentrale Vertreter der Frankfurter Schule prägen den Begriff der Kulturindustrie als ein Resultat der „Dialektik der Aufklärung“. Kultur wird zu einem reproduzierbaren Massengut, sie wird industrialisiert und zur Ware. So verliert Kultur Individualität und ihr gesellschaftlich relevantes kritisches Potenzial. KI wirkt hier als Beschleuniger und vielleicht sogar als Vollender der Kulturindustrie. Sie führt zur exponentiellen Reproduktion von Kultur und Kunst als Industrieprodukt. In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ analysiert Benjamin, wie technische Vervielfältigung die Aura von Kunstwerken zerstört. KI geht noch weiter: Sie produziert neue Werke, die nie ein Original, bzw. Milliarden Originale hatten, aber so auch keine Aura. Nun könnte man argumentieren, dass Warhols Suppendosen einen ähnlichen Hintergrund hatten oder Beuys Diktum, dass jeder ein Künstler sei, hier seine demokratische Vollendung finde, aber am Ende scheint mir „KI-Kunst“, zumindest wie sie von den „Massen“ in Massen produziert wird, doch keine Kunst zu sein, sondern Trash (vgl. den Hype um Bildgenerierungen im Stil des „Studio Ghibli“ oder den „Shrimp-Jesus“). Schließlich wirkt KI auch als Beschleuniger bei der Eindimensionalität des Menschen im Sinne von Marcuse. Die vermeintliche Freiheit, die KI zu bringen scheint, führt in Wahrheit doch zu einer Uniformität, Anpassung und Kontrolle. BigTech bestimmt, was wir mit KI erzeugen können und setzt unserer Kreativität klare Grenzen. Sie erzeugt „Durchschnittstexte“ und „Durchschnittsbilder“, die die Norm verstärken. Diese stromlinienförmigen Produkte, werden ungeprüft übernommen und zerstören so eigene Kritik- und Urteilsfähigkeit, der Mensch wird eindimensional. Zuletzt muss ich noch Habermas Diskurstheorie anführen. Die vorigen Ausführungen zeigen, dass KI dem herrschaftsfreien Diskurs im Weg steht, sie schränkt kritisches Denken ein und fördert Eindimensionalität, außerdem wird sie von wirkungsmächtigen Konzernen dominiert und verursacht so Hierarchie, die der idealen Sprechsituation entgegensteht.
Fazit: KI als Bedrohung und Chance
Am Ende dieser, doch eher pessimistischen, Gedanken muss aber festgehalten werden, dass die Zeichen des Niedergangs und der Dekadenz, die Marx und die Frankfurter Schule diagnostiziert haben, doch auch nur eine Seite der Medaille waren. Die Industrialisierung und auch die Kulturindustrie haben neben Konformität auch zu steigendem Wohlstand geführt, sie haben Arbeit, Kultur und Gesellschaft verändern und tun dies immer noch, ebenso wie KI.
Für den Bildungssektor bedeutet das, dass der Erhalt von Kritikfähigkeit, das Lernen über und trotz KI, der hierarchiefreie Diskursraum und der Wert des Lernens und Menschseins an sich mehr ins Zentrum von Schule und Bildung rücken müssen. KI muss kein Verstärker der Eindimensionalität sein, sie kann auch einen deliberativen Effekt haben, indem sie neue Diskursräume schafft. Dafür muss sie aber zwingend demokratisiert werden, das heißt sie muss zu einem Gemeingut, zu einer Almende werden, auf die jede und jeder gleichermaßen Zugriff hat. Wir stehen an einem Scheideweg. KI kann in Verbindung mit Robotik große Teile der Arbeitswelt obsolet machen. Das kann zu großer Verelendung der Massen führen, kann uns aber auch vom Joch des kapitalistischen Erwerbszwangs befreien und und als Menschheit auf eine neue Stufe des Humanismus und der Mündigkeit heben. Wir haben es in der Hand.
ChatGPT schlägt alternativ folgendes Fazit vor: „Die Blogparade #kAIneEntwertung zeigt eindrucksvoll, wie unterschiedlich die Perspektiven auf KI sind: von der Sorge um den Verlust von Werkstolz bis hin zu Ideen für neue Prüfungsformate und Kompetenzen. Mein Beitrag möchte diesen Diskurs um eine kritisch-theoretische Dimension erweitern. Marx und die Frankfurter Schule machen sichtbar, dass es bei KI nicht nur um praktische Fragen von Unterricht, Noten oder Stil geht, sondern auch um tiefere gesellschaftliche Dynamiken: um Entfremdung, um Macht über Produktionsmittel, um die Industrialisierung von Kultur und um die Bedingungen für eine freie Öffentlichkeit. Gerade darin liegt eine wichtige Ergänzung: Die Gefahr der Entwertung ist nicht allein pädagogisch oder individuell, sondern auch strukturell und kulturell. Gleichzeitig teilen Marx und die Frankfurter Schule mit vielen Beiträgen der Blogparade den doppelten Blick: Kritik an Entfremdung, Vereinheitlichung und Ausbeutung – aber auch das Bewusstsein, dass neue Technologien immer auch Chancen zur Veränderung und Befreiung enthalten. Für die Schule bedeutet das: Sie muss nicht nur Räume für Reflexion über KI schaffen, sondern auch Kritikfähigkeit, Diskursfähigkeit und die Frage nach Gerechtigkeit ins Zentrum rücken. So kann die Debatte über Entwertung zu einer Debatte über Ermächtigung werden – und genau darin sehe ich den gemeinsamen roten Faden der Blogparade.“
Besser hätte ich es kaum formulieren können. 😉
PS: Das KI-Fazit spiegelt die hybride Form von Textarbeit im Zeitalter von KI. Es ist gut formuliert und bringt meinen Text noch einmal prägnant auf den Punkt und schafft eine Anknüpfung an die Blogparade. Es ist entstanden als Resultat auf das KI-Feedback zu dem von mir handgeschriebenen Text, der Prompt lautete: „Bitte ein neues Fazit mit Bezug zur Blogparade formulieren“. Und das war ein wertvolles KI-Feedback, ich hatte nämlich im Schreibprozess tatsächlich die eigentliche Blogparade etwas aus dem Auge verloren. Das Fazit ist aber letztendlich doch nur bedingt ein reines KI-Produkt. Es fußt ja auf meiner intellektuellen Vorarbeit, bei der mich KI als Sparringspartner unterstützt hat.
Eigentlich lohnt sich in diesem Zusammenhang auch noch ein Schwenk zu dem italienischen Schriftsteller, Journalisten, Politiker und marxistischem Philosoph Antonio Gramsci:
“Die alte Welt liegt im Sterben und die neue Welt kämpft darum, zum Leben zu erwachen: momentan ist die Zeit der Monster.”
Vorbemerkung: Seit ich von den Agora-Schulen in den Niederlanden gehört habe, wollte ich unbedingt eine dieser Schule besuchen, wusste aber auch, dass das mit Wartezeiten verbunden ist. Bis ich mitten in den Sommerferien über LinkedIn mit Sjef Drummen, einem der Gründer, in Kontakt kam, der mir den Tipp gab, dass im September eine Delegation der Akademie des Bistums Mainz, geleitet und moderiert von Titus Möllenbeck und mit Hans Werner Jorda, pensionierter Schulleiter aus Frankfurt als Referent, nach Roermond fahren würde und es wohl noch Plätze gebe. Da habe ich sofort Kontakt aufgenommen und zugesagt und drei schöne Tage in den Niederlanden verbracht. Spoiler: Ich empfehle unbedingt eine Agora-Schule zu besuchen (und Roermond selbst ist auch ein schönes Städtchen)!
Am Freitag, dem 05. September 2025, stand ich endlich vor der Agora-Wings-Schule in Roermond und freute mich darauf, eine innovative Schule kennen zulernen, die auch schon als die beste Schule der Welt bezeichnet wurde (hier bei „Kosmo“), eine Schule, die schon von Delegationen aus aller Welt besucht wurde und deren Architektur und Konzept mehrfach ausgezeichnet wurden.
Die Agora-Wings Schule in Roermond ist eine öffentliche Schule mit ca. 300 Schülerinnen und Schülern, die sich das Gebäude mit einer berufsbildenden Schule teil. In den Niederlanden werden die Schulgebäude von den Gemeinden gestellt und es wird eine jährliche Pauschale pro Schülerin oder Schüler gezahlt, von der alle Ausgaben für den Schulbetrieb bezahlt werden müssen, mit Ausnahme der Lehrkräfte, die vom Land bezahlt werden. Die Schulen haben eine große curriculare und pädagogische Freiheit, am Ende der Schullaufbahn werden zentralisierte Abschlussprüfungen auf verschiedenen Niveaus angeboten. Es gibt staatliche Inspektionen zur Sicherung der Qualität.
Geschichte Die historischen Wurzeln der Agora-Schulen liegen in den 2000er-Jahren. 2003 haben Sjef Drummen, Kunstlehrer und späterer Gründungsschulleiter, und drei Schulleiter-Kollegen (Jan Fasen, Bert Sterken, Bert Martens) mit den Planungen begonnen und gemeinsam ein Manifest verfasst.
Diese drei Lehrkräfte haben das Konzept der Schule erarbeitet, später kam ein Architekt dazu, der einen Entwurf für ein Gebäude entwickelt hat. Ziel war: „Kein Unterricht mehr!“, so Sjef Drummen. 2007 war das Gebäude fertig und wurde mit Preisen bedacht. Es kamen Besucher aus aller Welt um sich Gebäude und Konzept anzuschauen.
Von Beginn an sollte ein innovatives Konzept die Schule prägen, es gibt eine 1:1 Ausstattung mit Laptops, einem zugehörigen Full Service und einem Gerätetausch alle drei Jahre. Zunächst gab es am Vormittag noch „traditionellen“ Unterricht nach Stundenplan und Nachmittags Projekte, die beflügeln sollten („Wings“). Nach sechs Jahren stellte sich dann die Frage, ob die Schule sich, wie von den Schülerinnen und Schülern gewünscht, radikal weiterentwickeln sollte und mit dem traditionellen Unterricht brechen sollte. Die Entscheidung fiel Richtung Innovation und der Unterricht wurde mit einem 2013-14 entwickelten Konzept endgültig abgeschafft. Es gab keine Tests mehr, keine Noten, kein Sitzenbleiben, kein Lehrplan und keine Lehrkräfte, keine Hausaufgaben mehr, sondern Lerncoaches.
Die neue Agora-Wings Schule startete dann 2014 mit 14 Lernenden, aktuell gibt es 32 Agora-Schulen in fünf europäischen Ländern und Israel. Seit 2016 können höhere Abschlüsse erreicht werden, die Schülerinnen und Schüler erreichen dabei überdurchschnittliche Ergebnisse.
Wie wird gelernt? Die Kernidee ist, dass Kinder am besten ohne jeglichen Druck lernen. Drummen ist überzeugt, dass sich die Qualität des Lernens ohne Lehrer erhöhe. Traditionelles Lehren bremse Entwicklung, seine Forderung: „Wir brauchen Lehrer 2.0!“.
Diese Lehrkräfte sind dann Lerncoaches, die 18 Schülerinnen und Schüler begleiten und keine Forderungen stellen, außer an das soziale Zusammenleben; die Coaches betreiben Menschenbildung. Agora-Wings ist dezidiert keine Schule, sondern eine Lerngemeinschaft, die über das Gebäude hinausgeht. Teil der Lerngemeinschaft sind auch die Eltern und die Kommune. Gemeinschaftssinn ist wichtiger als Wissen. Der oder die Lernende bestimmt den Weg, der Lerncoach hat eine dienende Funktion und verführt bestenfalls zum Lernen.
„Wir sind keine Schule. Wir bringen euch nichts bei. Es ist euer Gehirn. Ihr werdet lernen. Wir unterstützen euch in jeder Hinsicht beim selbstständigen Lernen. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür. Wir unterstützen dein Selbststudium. Und du musst das nicht für uns tun. Wir rennen dir nicht hinterher. Wenn du dich auf deinen Lorbeeren ausruhen und nichts tun willst, ist das auch in Ordnung. Aber wenn du die Welt erobern und gut werden willst, musst du sehr hart arbeiten.“, so beschreibt Drummen die Haltung gegenüber den Lernenden. Die einzigen Verpflichtungen für die Schülerinnen und Schüler bestehen aus zwei Stunden Sport in der Woche und einer halben Stunde Stille (schlafen, lesen, meditieren) in der Mittagspause. Das zwanglose Lernen findet in so genannten „Challenges“ oder „Masterclasses“ statt.
„Man darf keine Forderungen an Schüler stellen!“
„Der Schlüssel zur Bildung ist bedingungslose Liebe“
Sjef Drummen, ehemaliger Schulleiter und Mitgründer von Agora-Wings
In den ersten Jahren an der Schule machen die Schülerinnen und Schüler so genannte „Challenges“, das sind von ihnen selbst entwickelte Fragen, bei deren Beantwortung sie das Lernen lernen. Die Kinder lernen alters- und leistungsgemischt mit- und voneinander. Laut Sjef Drummen lernen die Kinder so 80% der später erforderlichen Prüfungsinhalte selbstständig. Wer dann einen Abschluss macht, lernt in den letzten beiden Jahren die fehlenden 20% bei Lehrkräften von anderen Schulen, die zu bestimmten Zeiten zur Verfügung stehen. Drummen nennt das Prinzip „relationales autonomes Lernen“. Die Lernenden lernen ohne Zwang von Vorbildern und autonom. Neugierde sei der Motor des Lernens und Vorstellungskraft der Treibstoff. Aufgabe der Lerncoaches ist es für das Wohlbefinden der Lernenden zu sorgen, nicht das Kind stehe im Mittelpunkt, sondern dessen Entwicklung. Die Lernenden sind frei und haben doch einen Rahmen, es gibt keine Konkurrenz und keine Vergleiche. Sie bilden „Lerngemeinschaften zur Potentialentfaltung“ im Sinne Gerald Hüthers. „Wir können nichts ins Gehirn der Kinder reintun, wir können sie nur zum Lernen verführen“, so Drummen. Jedes Gehirn sei einzigartig und brauche eigene Rezepte. Motivation entstehe aus Freiwilligkeit, Arbeitsaufträge zerstören Motivation – eben Lernen ohne Zwang. Die Motivationstheorie von Decy und Ryan wird hier umgesetzt, indem Autonomie, Verbundenheit und Kompetenz im Vordergrund stehen. An der Agora-Schule geht man davon aus, dass Kinder lernen und gut sein wollen. Ein Fokus auf Wissen würde den Lernprozess verhindern, Wissen ist ein Nebenprodukt von Entwicklung und kommt automatisch.
Die „Challenges“ folgen einem bestimmten Format. Die Themen entstehen durch Fragen, die in einem digitalen Portfolio festgehalten werden: „Warum möchte ich diese Herausforderung? Wie gehe ich sie an? Werde ich sie alleine oder mit anderen Schülern bearbeiten? Wie viel Zeit werde ich voraussichtlich brauchen? Wem könnte mir helfen? Kann ich die Antwort online finden? Muss ich irgendwo außerhalb der Schule die Antwort suchen? War mein Zeitplan ausreichend? Welches Feedback habe ich vom Coach erhalten? Was habe ich gelernt? Was werde ich beim nächsten Mal anders machen?“ Der Lernprozess wird von den Lerncoaches begleitet und mit den Lernenden reflektiert, wobei die Frage nach dem Gelernten und den Konsequenzen für die nächste „Challenge“ im Vordergrund stehen. Bei der Beantwortung der Fragen entstehen mehr neue Fragen und das ist für Sjef Drummen die Essenz des Lernprozesses.
Der immer gleiche Ablauf der Lernprozesse soll den Lernenden Halt und Orientierung, Klarheit und Sicherheit geben. Eine Bewertung des Geleisteten findet durch formatives und wertschätzendes Feedback durch Coaches und Mitlernende statt. Da die Lernprozesse autonom initiiert sind, entsteht eine hohe Motivation, sodass sich die Lernenden ohne Zwang lange und auch noch zuhause mit ihren Fragen beschäftigen und so vertieft und nachhaltig lernen. Zur Unterstützung der Lernprozesse dürfen Handys und Laptops genutzt werden, da diese das Wissen der Welt beinhalten. Die Schule ist über WhatsApp mit den Lernenden in Verbindung. Die Schülerinnen und Schüler sind oft außerhalb der Schule unterwegs, um dort Teile ihrer „Challenges“ zu erledigen, dabei werden sie über die Standortfreigabe in WhatsApp begleitet.
Die Lerncoaches Die Lerncoaches begleiten die Lernenden bei ihren „Challenges“ und führen wöchentliche Lernentwicklungsgespräche (30 Minuten) durch. Sie begleiten die „Challenges“ und „Masterclasses“ von in der Regel 18 Lernenden. Sie kommen morgens um 08:00 Uhr in die Schule und bleiben bis 16:30 Uhr, die Schülerinnen und Schüler sind von 09:00 bis 14:30 Uhr anwesend. Die Zeiten ohne Lernende nutzen die Lerncoaches für Besprechungen und Planung, nach 16:30 Uhr ist die Arbeit erledigt, es gibt ja keine Korrekturen, Vorbereitungen usw. Es war allerdings wenig überraschend, dass während unseres Besuchs auch um 17:00 Uhr noch Lernende und Lehrende vor Ort waren.
Laut Drummen besteht „die Aufgabe der Bildung darin, junge Menschen heranzubilden, die ein hohes Verantwortungsbewusstsein für ihren Beitrag zur Gesellschaft empfinden. Weltorientiertes Lernen. Damit meine ich eigenverantwortliche, selbstdisziplinierte, einfühlsame, glückliche und demokratische Bürger. Dies kann nur erreicht werden, indem Schülerinnen und Schülern durch einen relationalen, autonomen Lernansatz die Erfahrung vermittelt wird, dass sie für ihre eigene Entwicklung verantwortlich sind.“ Überschreiten Schülerinnen oder Schüler Grenzen, führt dies nicht zu einer Strafe, sondern einem Gespräch. Mobbing gibt es in einer Agora-Schule eigentlich nicht, da gute Beziehungen zwischen allen in der Schule und zur Welt ein zentrales Lernziel sind.
Wenn neue Lerncoaches eingestellt werden sollen, müssen diese mit den Schülerinnen und Schülern sprechen, die dann über die Eignung entscheiden.
Eltern Eltern spielen im Universum der Agora-Schulen eine entscheidende Rolle. Mit Eintritt des Kindes in die Schule verpflichten sich Eltern ihre Kompetenzen einzubringen. In „Masterclasses“ wird Wissen vertieft und diese werden von den Eltern angeboten. Will eine Gruppe von Kindern zum Beispiel Lakritzeis machen, finden sich Eltern, die dabei unterstützen können, es kann aber auch sein, dass sich eine Gruppe mit Quantenphysik oder Astronomie beschäftigt. Die „Mastererclasses“ finden meistens außerhalb des Schulgebäudes in Unternehmen, Kanzleien, Werkstätten usw. statt und gehen über mehrere Wochen. Im Rahmen von „Masterclasses“ sind Lernende schon nach Kenia gereist, um Elefanten zu studieren oder haben sich eine Weile in Nepal aufgehalten, um herauszufinden, ob sie Kulturanthropologie studieren wollen.
Fazit Sicher, die Anzahl der Lernenden in einer Agora-Schule ist überschaubar und diese Art von Schule lockt sicher auch nur begrenzt die so genannten „bildungsfernen Schichten“ an. Auch bei aller Nutzung von rechtlichen Grauzonen, sind gewisse Aspekte des Konzepts nicht auf Deutschland übertragbar. Dennoch zeigt die Agora-Wings-Schule, was möglich ist, wenn Kinder ohne Druck und intrinsisch motiviert lernen. Das Lernen ist nachhaltiger, demokratischer und menschlicher. Und am Ende sogar effektiver und günstiger. Entscheidend ist, wie immer eigentlich, die Haltung aller an Schule Beteiligten. Da müssen wir ansetzen, eigentlich ist es ganz leicht, wir müssen den Lernenden auf Augenhöhe begegnen und ihre Bedürfnisse ernst nehmen, sie wahrnehmen und begleiten ohne zu überwältigen. Klingt ganz leicht und ist so schwer. Jede Lehrkraft sollte einmal eine Agora-Schule besuchen!
Epilog Am Ende unserer Führung durch die Schule sind wir auf den 16jährigen Lucas getroffen, der an einem Freitag um 17:00 Uhr noch mit einem Freund an einem Roboter gebastelt hat. Er will Mechatronik studieren. Angefangen hat er mit Arduinos und Lego Robotik in „Challenges und „Masterclasses“, jetzt trainiert er für die Teilnahme an internationalen Robotik-Wettbewerben. Lucas spricht ein perfektes Englisch – und hatte noch nie eine Stunde Unterricht.
Heute durfte ich einen Vortrag vor Oberstufenlehrkräften halten. Es ging um eine Einführung zu KI in der Schule mit einem Schwerpunkt auf der Oberstufe. Dem positiven Feedback zufolge, scheint dies gelungen zu sein.
Wie meine letzte Vorträge, stelle ich auch diesen gerne öffentlich zur Verfügung.
KI spielt im politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Diskurs, aber auch in der Bildungs- und Schulpolitik eine untergeordnete Rolle und das ist fatal.
Das ist sicher eine steile These. Die deutsche Industrie entdeckt gerade ihre KI-Kompetenzen bei der Auswertung von Maschinendaten, aber im Mittelstand ist KI noch nicht angekommen. Die EU hat schon gesetzliche Regulierungsmaßnahmen geschaffen, die teilweise kontrovers diskutiert werden, in der Breite sind diese aber noch nicht angekommen. Es gibt „Leuchtturmschulen“ die vorbildlich mit KI umgehen und Ed-Techs, die tolle Anwendungsmöglichkeiten bieten, sogar Bundesländer, die diese Anwendungen ihren Schulen zur Verfügung stellen, aber auch in den Schulen ist KI noch lange nicht in der Breite angekommen. Es gab schnell Handreichungen, aber sonst ist in vielen Bundesländern nicht viel passiert. In allen Bereichen wird immer wieder, zumindest implizit, suggeriert, dass es Wichtigeres zu diskutieren gebe. Dabei haben viele Staaten schon erkannt, dass KI in Lehrpläne gehört, mit Fördergeldern versehen werden muss und in Anwendungen integriert werden muss. China und die USA liefern sich einen Wettlauf um immer bessere KI-Modelle und Europa erwacht langsam mit zarten Ansätzen. KI wird in vielen Bereichen eine immer stärkere Rolle spielen. In der Medizin, im Umgang mit großen Datenmengen, bei autonomen Steuerungssystemen, bei der Datenverarbeitung, im Journalismus, bei der Erzeugung von Verträgen, im Militär, in der Robotik, im Handwerk, eigentlich in nahezu allen Lebensbereichen. Menschen lassen sich von KI in Sachen Wissen, Geld, Liebe usw. beraten, gehen sogar neue Formen von Beziehungen mit KI-Avataren ein. KI wird zum Begleiter, Organisator, Tutor, Berater; KI-Agenten übernehmen komplexe Aufgaben und organisieren Lebensbereiche im Privaten, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft. Ki ist ubiquitär und bestimmt jetzt schon Teile unseres Lebens, auch an Stellen, an denen wir es gar nicht merken und wir befinden uns im Grunde erst am Anfang einer Entwicklung, bisher ist die immer wieder angekündigte „KI-Eiszeit“, eine lange Phase von Stagnation in der Weiterentwicklung von KI-Modellen, nicht eingetreten. Im Gegenteil: Es tun sich immer neue Anwendungsfelder auf, von denen wir, wenn überhaupt, nur am Rande etwas mitbekommen, zum Beispiel beim Militär oder beim Maschinenmanagement in Fabriken.
Bei aller Kritik an den Unzulänglichkeiten, Halluzinationen, ökologischen und ethischen Auswirkungen und dem Bias von KI, tendiere ich dennoch zu der Annahme, dass KI, oder aktuell noch besser gesagt: Maschinelles Lernen und neuronale Netze und deren Anwendung Schlüsseltechnologien für die Zukunft sind. Ob und wie wir uns damit auseinandersetzen, hat also eine stark politische Dimension. Wir brauchen eine Rahmengesetzgebung und spezielle Regulierungen für Bildung oder Industrie. Wir brauchen staatliche und private Infrastruktur, Investitionen und vor allem die Bereitschaft uns auf den Weg zu machen. Dafür muss Politik arbeiten und Anreize schaffen.
Im Grunde gibt es für die Politik, im Sinne des Dagstuhl-Dreiecks für Bildung in der digitalen Welt aus der Informatik drei relevante Dimensionen: 1. Eine technische Dimension. Wie funktioniert KI? 2. Eine Anwendungsdimension. Wie nutze ich KI? 3. Eine gesellschaftlich-kulturelle Dimension. Wie wirkt KI auf mich und die Gesellschaft? Die Aufgabe der Politik ist es nun, für 1. Rahmengesetze zu schaffen. Welche Daten dürfen fürs Training verwendet werden, welche Sicherheitsmechanismen müssen eingebaut werden? Zu 2.: wie schützen wir Kinder, aber auch, wie schützen wir Erwachsene vor Missbrauch der und durch KI-Anwendungen. Und 3. Welche Bereiche der Gesellschaft wollen wir in die Hand von KI geben, wie gehen wir mit dem KI-Bias um oder was bedeutet es, wenn es wirklich zur AGI, der dem Menschen überlegenen Superintelligenz kommt? Von Interesse ist außerdem, welche Jobs von KI bedroht sind und werden, welche neuen Jobs entstehen, wie kann KI uns helfen Probleme zu lösen? Im Bereich des Moleküldesigns geschehen gerade große Fortschritte, die sich auf Medizin, Umweltschutz und viele weitere Bereiche auswirken.
Für Schulen, aber auch für lebenslange Bildung, von der frühkindlichen Bildung bis zur Rente und darüber hinaus wird KI in der Zukunft eine immer stärkere Rolle einnehmen. Sei es im Bereich der Diagnose, des Tutorings oder auch der Verwaltung und der Datenanalyse. Wegweisende Anwendungen und Pilotprojekte existieren schon, aber ich vermisse eine breite Diskussion dazu. Im Moment gibt es unter Lehrkräften zwei wesentliche Gruppen, die kleiner besteht aus KI-Pionierinnen und -Pionieren, die sich im Sinne der 4A von Doris Weßels (aufklären, ausprobieren, akzeptieren, aktiv werden) auf den Weg machen und eine größere Gruppe die so tut, als hätte das alles nichts mit ihnen zu tun. Die Studie „KI an europäischen Schulen“ von IPSOS im Auftrag der Vodafone Stiftung vom Anfang des Jahres kommt zu folgenden Ergebnissen:
•74% der 12-17-Jährigen halten KI für bedeutend für die berufliche Zukunft •56% nutzen KI zur Recherche, 45% für Erklärungen und 31% zur vollständigen Lösung von Aufgaben •Nur 36% berichten von schulischen Regularien •Nur 44% halten Lehrkräfte für ausreichend kompetent •49% befürchten durch KI mehr Ungleichheit und 27% fühlen sich abgehängt •48% fürchten Mobbing durch Deep Fakes
In anderen Studie ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler die KI für schulische Arbeit nutzen deutlich höher. Das können wir doch nicht ignorieren. Fast drei Jahre nach dem Durchbruch von ChatGPT gibt es in vielen Schulen noch keine Strategie zum Umgang (Funfact: Ein KI-Verbot ist keine Strategie). Wir müssen die drei oben beschriebenen Dimensionen im Umgang mit KI endlich in die Schule holen. Wir müssen den Lernenden beibringen, wie KI funktioniert, wir müssen sie in der sinnvollen Anwendung schulen und wir müssen sie kritisches Denken im Umgang mit KI und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft lehren. Die sozialen Medien werden von KI-Bots geflutet, die tendenzöse Beiträge und Kommentare veröffentlichen, um so Einfluss auf den politischen Diskurs zu nehmen und unsere Gesellschaft zu polarisieren. Deepfakes sind teilweise kaum noch zu erkennen, sind als trampolinspringende Hasen vielleicht noch witzig, können aber im politischen Diskurs großen Schaden verursachen. Gerade erst kam heraus, dass Meta-Chatbots unangemessen mit Jugendlichen interagiert haben, es gibt Fälle in denen Jugendliche von KI-Bots in den Tod getrieben wurden. Außerdem vergrößern wir im Moment die Spaltung der Gesellschaft, da ein Teil der Bürger, der Schülerinnen und Schüler die Chance hat sich mit KI (fort-)zu bilden und der andere Teil immer weiter abgehängt wird, weil er sich nicht damit beschäftigt oder oder den Zugang nicht leisten kann. All das können wir doch alles nicht einfach geschehen lassen. KI bietet unglaubliche Möglichkeiten und bedroht gleichzeitig unser Bildungssystem und unser pluralistische freiheitlich-demokratische Grundordnung, unser Wirtschaftssystem und unser psychische Gesundheit. Und damit sind wir wieder bei der politischen Dimension. Wir brauchen einen politischen und gesellschaftlichen Diskurs, wie wir mit Künstlicher Intelligenz umgehen wollen, gleichzeitig müssen wir die Menschen zu diesem Diskurs befähigen, was Aufgabe des Bildungssystems ist.
Grafik: ChatGPT 5; Prompt: Visualisierung des Beitrags
Das Thema „Visionen in Schulentwicklungsprozessen“ beschäftigt mich als Praktiker schon länger und ist auch immer wieder Gegenstand von Diskussionen in unserer Schulgemeinschaft und in unserem Schulleitungsteam.
Viele Schulentwicklungsprozesse beginnen mit der Entwicklung einer Vision oder eines Leitbildes. So soll, zumindest in der Theorie, ein gemeinsames Fundament, ein Konsens, ein Ziel entwickelt werden, welches dann die Mitglieder der Schulgemeinschaft zu einem Zustand leitet, der von möglichst allen gewünscht wird. Ich kann das grundsätzlich nachvollziehen, habe aber doch auch meine Probleme damit, die ich gerne erläutern und in den Diskurs einbringen will.
Ex-Kanzler Helmut Schmidt soll, vermutlich im Bundestagswahlkampf 1980, gesagt haben: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Ich antworte für gewöhnlich darauf, dass ich beim Arzt gewesen sei und dieser bestätigt habe, dass alles in Ordnung sei. Aber braucht Schulentwicklung tatsächlich eine Vision oder ist das vielleicht sogar schädlich? Der Duden definiert Vision als: a) übernatürliche Erscheinung als religiöse Erfahrung b) optische Halluzination c) in jemandes Vorstellung besonders in Bezug auf Zukünftiges entworfenes Bild. Etymologisch spielen eher a) und b) eine Rolle, für unseren Kontext aber wohl eher c): Eine Vorstellung in Bezug auf eine Zukunft. Jetzt bin ich aber der Überzeugung, mein Blog und die Newsletter belegen das immer wieder, dass unsere Zukunft volatil und unsicher ist, dass wir in Zeiten exponentieller Veränderungen leben. Wie soll in diesem Kontext eine tragfähige Vision für die Zukunft einer Schule entstehen? Ist nicht jede Vision unter Umständen nach einem Jahr schon wieder obsolet, weil sich Rahmenbedingungen fundamental verändert haben. Dem kann man natürlich entgehen, indem man eine Vision möglichst wenig konkret verfasst: „Wir wollen eine Schule sein, an der sich alle wohlfüllen“. Das ist dann aber schon wieder ziemlich beliebig und ein Allgemeinplatz, dem alle zustimmen würden, der in seiner Konkretisierung aber konfliktbehaftet ist, weil jeder sich anders wohlfühlt. Wird man auf der anderen Seite zu konkret und fasst die Vision zu eng, kann es passieren, dass ein Ziel ganz schnell nicht mehr als erstrebenswert gilt, zum Beispiel „Wir wollen unseren Unterricht an kybernetischen Lerntheorien orientieren“ oder wir wollen die Methode „Lesen durch Schreiben“ implementieren. Diesem Dilemma kann man vielleicht entkommen, indem man eben kein Leitbild oder keine Vision für eine Zukunft entwickelt, die immer schlechter vorhersehbar ist, sondern indem man einen Auftrag für das jetzt entwickelt, so wie wir es mit dem Mandat für unsere DNA-Gruppe gemacht haben, das mit großer Zustimmung von der Gesamtkonferenz abgestimmt wurde:
Auch dort steht, dass wir eine Schule haben wollen, auf die alle wieder mehr Lust haben. Aber das wird konkretisiert, wir wollen das erreichen, indem wir Unterricht öffnen und neu denken, an anderen Schulen hospitieren, mehr Sinn und Selbstwirksamkeit stiften, mutig sind, gemeinsam mit der gesamten Schulgemeinschaft daran arbeiten wollen und sogar schon Rahmenbedingungen festgelegt haben. Das ist hinreichend offen und hinreichend konkret. Es gibt Leitplanken oder Eckpfeiler, wie Öffnung von Unterricht und einen Kerngedanken von pädagogisch anderem Handeln und Systemtransformation, der sich an anderen Schulen (Best Practice) orientiert und die gesamte Schulgemeinschaft einbindet.
Ich finde, damit ist hinreichend klar, wohin der Weg führen soll. Es ist ein Rahmen gesteckt und nächste Schritte werden konkret. Dennoch ist Flexibilität, moderner gesagt: Agilität, möglich, da wir ja unseren eigenen Weg finden müssen, der sich an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler in unserem Umfeld orientiert.
Fazit: Wir brauchen keine Vision für die Zukunft, wir brauchen einen Auftrag für die Gegenwart. (Und die Diskussion um den Arzt können wir uns sparen)
Vorbemerkung: Dieser Beitrag kommt ohne echte wissenschaftliche Evidenz daher. Ich habe natürlich Bücher zu Schul- und Organisationsentwicklung gelesen, Fortbildungen und Workshops dazu besucht und gehalten, aber ich will hier keinen wissenschaftlichen Artikel veröffentlichen. Mir geht es um eine Idee, eine Erfahrung, die ich gerne in den Diskurs einbringe. Mir ist auch bewusst, dass man den Begriff „Guerilla“ durchaus kritisch sehen kann, aber ich finde ihn in dem Kontext durchaus sinnvoll, nicht weil er etwas Militärisches hat, sondern weil er den Kerngedanken meiner Idee gut trifft. Ich könnte auch von Ninja-Schulentwicklung sprechen, aber das würde es nur begrenzt besser machen. Und wie jede Metapher hat auch der Begriff „Guerilla“ in diesem Kontext seine Grenzen. In der Schule werden natürlich keine „Feinde“ mit klandestinen Militäroperationen empfindlich getroffen, aber es geht um viele kleine punktuelle Aktionen, die Entwicklung verändern.
Das ist dann nämlich auch schon der Kerngedanke der Guerilla-Schulentwicklung. Es gibt kein feststehendes großes Ziel, auf das dann hingearbeitet wird, bei dem der Schulleiter die Richtung vorgibt und den Lehrkräften sagt, wo es lang geht (ich verzichte hier jetzt bewusst auf militärische Metaphern). Solche Entwicklungsprozesse sind in der Regel zum Scheitern verurteilt. Dennoch braucht Schulleitung eine Vision, die im Idealfall im Dialog mit der Schulgemeinschaft entsteht. (Zum Thema Vision wird bald ein weiterer Blogartikel erscheinen.) Diese Vision muss hinreichend, aber nicht sonderlich konkret sein, sie muss eine Richtung haben, aber kein klares Ziel. Schulentwicklung ist eine zentrale Aufgabe der Schulleitung, aber kein Prozess der sinnvoll angeordnet werden kann, der aber gesteuert werden muss. Wie kann das aber gelingen? Wie kann ich als Schulleiter Einfluss auf Schulentwicklung nehmen ohne zu diktieren und wie kann ich die Schulgemeinschaft mitnehmen?
Es ist nicht ratsam, und da hinkt der Guerilla-Vergleich, Schulentwicklung als Geheimoperation oder Täuschungsmanöver (schon wieder eine Militär-Metapher) durchzuführen. Schulentwicklung muss transparent sein. Aber sie darf, und da passt der Vergleich wieder, überraschend sein, sie darf Spuren hinterlassen, von denen unklar ist, wo sie herkommen. Ganz konkret heißt das, dass man an einer prominenten Stelle ein Plakat, eine Karikatur oder einen Zeitungsartikel aufhängen oder platzieren kann, der zum Nachdenken anregt. Ich hänge manchmal so etwas ans Schwarze Brett oder „vergesse“ Kopien im Lehrerzimmer. Ich weise bestimmte Kolleginnen und Kollegen auf bestimmte Fortbildungen hin oder werbe für bestimmte Bücher oder Filme. Zum Beispiel habe ich drei Exemplare des Buchs von Stefan Ruppaner angeschafft und ins Kollegium verliehen. Wir haben außerdem innovative Konferenzformate wie Barcamps oder Open Spaces eingeführt, die ganz viel Raum zur Ideenentwicklung bieten, die dann langsam in die Schulgemeinschaft sickern (Schulentwicklung ist ja kein Sprint, sondern ein Marathon). Überhaupt geht es ganz viel darum den Mitgliedern der Schulgemeinschaft Möglichkeitsräume zu schaffen, ihnen Vertrauen zu schenken und sie bei Innovationen zu unterstützen, auch im Scheitern. Innovative Lehrkräfte haben einen starken Instinkt für die richtige Richtung von Schulentwicklung, sie, aber auch die Lernenden, spüren am Ende besser als die Schulleitung was die Schule braucht. So kam die Initiative zehn Lehrkräfte bei BeWirken an einer Lernbegleiter-Fortbildung teilzunehmen aus dem Kollegium und wurde von der Schulleitung natürlich sofort unterstützt.
Zur Guerilla-Schulentwicklung gehört auch Ideen und Erkenntnisse aus der Bildungswissenschaft oder aus der Bildungsbubble auf Social-Media in die Schulgemeinschaft zu transportieren. Das passiert im alle zwei Wochen erscheinenden Newsletter oder in Statements auf Konferenzen, Sessions in Barcamps, Einzelgesprächen und überhaupt bei jeder Gelegenheit. Bestenfalls als Denkanstoß oder Angebot auf keinen Fall als Belehrung.
Sinnvoll ist es natürlich auch externe Berater oder Teilgeber für Barcamps einzuladen, die Innovationen unterstützen.
All diese Maßnahmen führen zu sichtbaren Veränderungen. Am deutlichsten wird das in der Art, wie mittlerweile über Schulentwicklung in der Schule gesprochen wird. Vor zwei Jahren waren Begriffe wie Lernbegleitung, Freiday, Alemannenschule, Lernbüro, Barcamp usw. allenfalls einer kleinen Minderheit bekannt und spielten im Diskurs keine Rolle. Jetzt können fast alle Kolleginnen und Kollegen damit etwas anfangen und entwickeln ihre eigenen Vision von einer modernen Schulkultur. Und das ist ein beachtlicher Erfolg! In nur zwei Jahren ist es gelungen durch ganz viele kleine Aktionen an ganz vielen Orten und zu unterschiedlichen Anlässen und Zeiten einen neuen Möglichkeitsraum zu schaffen, in dem Schulentwicklung stattfinden kann. Jetzt ist hoffentlich der Boden bereitet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen und Schule neu zu denken. Nicht durch Diktat oder Überwältigung, sondern durch Information, Angebot und Empowerment. Und das ist das, was ich mit Guerilla-Schulentwicklung meine.
In der Lehrkräftebubble tut sich diesen Sommer etwas. Bob Blume, Gert Mengel und Silke Müller verlassen den Schuldienst oder lassen sich beurlauben. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, die in den sozialen Medien aufgeploppt ist. Wer danach sucht findet noch zahlreiche weitere Fälle. Isabell Probst hat mittlerweile zahlreich Nachahmerinnen und Nachahmer bekommen, die Lehrkräfte beraten, die darüber nachdenken „das System“ zu verlassen. Auf Facebook gibt es zwei Gruppen „Lehrer auf Abwegen“ mit 11,5 und knapp 17 Tausend Mitgliedern. Was einst als undenkbar galt, einen sicheren Beamtenjob zu kündigen, ist nichts Ungewöhnliches mehr. In Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Kündigungen in den letzten zehn Jahren verzehnfacht (Quelle). In NRW haben 2023 fast 1.000 Lehrkräfte gekündigt; 2024 waren es etwas weniger. Darunter waren neun Schulleitungen. Viele waren unter 40 Jahre alt (Quelle). Auch in Hessen haben die Zahlen stark zugenommen. Waren es 2018 noch 140 Kündigungen (Beamte und Angestellte), stieg die Zahl bis 2022 auf 228, bei den Beamten stieg die Zahl sogar von 39 auf 122 im betrachteten Zeitraum (Quelle).
Im Vergleich zu den Gesamtzahlen sind das (noch?) relativ kleine Zahlen. Baden-Württemberg hat über 75 und NRW sogar über 170 Tsd. Lehrkräfte, in Hessen sind es über 67 Tausend (Quelle). Dennoch sollte es zu denken geben, wenn Menschen es hinnehmen auf Pensionsansprüche zu verzichten, um dem Schulsystem den Rücken zu kehren. Natürlich sind die Gründe vielfältig. Das kann mit dem Wunsch oder der Chance nach beruflicher Veränderung zu tun haben, wie bei Silke Müller und Gert Mengel, die dem Bildungssystem im erweiterten Sinne erhalten bleiben, das kann mit dem Wunsch nach Studium und Vertiefung zu tun haben, wie bei Bob Blume. Das kann mit dem Wunsch nach örtlicher Veränderung zu tun haben, wie bei einer Kollegin an meiner Schule. Wenn man aber den Ausstiegsberichten in den sozialen und „normalen“ Medien glaubt, hat es auch häufig mit Überlastung und Unzufriedenheit mit „dem System“ zu tun. Das ist auch nicht wirklich verwunderlich. Die Anforderungen an das Schulsystem haben in allen Bereichen zugenommen, gleichzeitig wächst der Lehrkräftemangel. Außerdem sind die Bausteine des Systems davon noch sehr unterschiedlich betroffen. Grund- und Gesamtschulen haben mit größeren Herausforderungen zu kämpfen als Gymnasien. Städtische Schulen sind oft stärker betroffen als ländliche, dann spielen auch noch Regionen, Stadteile und die Systeme der Länder eine Rolle. Darauf reagiert Hessen mit einem Sozialindex, bundespolitisch gibt es das Startchancenprogramm. Daher lässt sich ein genereller Exodus nicht feststellen. Dem gesamten Bildungssystem tut es vielleicht sogar gut, wenn erfahrene Lehrkräfte oder Schulleitungen an anderer Stelle wirken, dort ihre Expertise einbringen und für eine Veränderung des Systems kämpfen, was so im System nicht möglich wäre. Außerdem ist es ja in der Arbeitswelt außerhalb des Beamtentums völlig normal, dass man neue Herausforderungen sucht und sich beruflich umorientiert und entwickelt. Dennoch zeigen der zunehmende Mangel an Lehrkräften, die steigenden Kündigungszahlen und die wachsende Unzufriedenheit im System, dass etwas nicht stimmt mit dem deutschen Bildungssystem. Seit Jahrzehnten werden die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler in internationalen Vergleichsstudien schwächer, psychische Erkrankungen bei Lernenden und Lehrenden nehmen zu. All das hat sicher nicht nur, aber auch, mit Schule zu tun. Leider sind Kinder aber, wie Aladin El Mafaalani schreibt eine „Minderheit ohne Schutz“. Bildungspolitik spielt eine untergeordnete Rolle und wir führen nicht die notwendigen Diskussionen über Medien- und Demokratiebildung, psychische Gesundheit, Resilienz und Kompetenzen für das 21. Jahrhundert.
Bleibt zu hoffen, dass die Kündigungen von Lehrkräften nicht exponentiell wachsen, wie laut Christian Stöcker so viele Prozesse in den letzten Jahrzehnten. Bleibt zu hoffen, das wirklich viele der Kündigenden helfen, die notwendigen Diskussionen voranzutreiben. Und bleibt zu hoffen, dass Politik und Gesellschaft erkennen, dass die beste Vorsorge für eine gute Zukunft eine gute und zeitgemäße Bildung im hier und jetzt ist.
Die Weibelfeldschule hat eine lange Tradition in der Medienproduktion. Schon in den 1980er Jahren wurde im dortigen AV-Studio das „Stadtfernsehen Dreieich“ für das lokale Kabelnetz produziert. Dazu gehörten natürlich auch Arbeitsgemeinschaften, die sich mit Medientheorie und -ethik befassten. Besagtes AV-Studio wird gerade umgebaut und von Grund auf modernisiert. Dazu an anderer Stelle demnächst mehr. Im Zuge des Umbaus wird auch ausgemistet und entsorgt, dabei ist meinem Stellvertreter ein kleines Büchlein in die Hände gefallen, das er benutzt hat, um eine Tür offen zu halten. Dieses Büchlein ist dann mir in die Hände gefallen und folgende Seite war aufgeschlagen:
Quelle: „Der Programmhungrige“ Aus: Müller-Neuhof/Schiphorst: Audiovision in der Praxis. Heim-Video von A-Z, Pflaum-Verlag München 1979/80, S. 38.
Warum blogge ich das? Weil es ein gutes Beispiel dafür ist, dass neue Technologien, hier der Videorekorder um 1979/80, zunächst gerne als Bedrohung wahrgenommen werden, denen dann auch Suchtpotenzial unterstellt wird. Radio und Fernseher sollten, wie das Internet, das Ende des Buchs einläuten, das ja als der Kulturträger schlechthin gilt. Allerdings hat weder das Fernsehen das Radio zerstört, noch das Radio das Buch. Das analoge Buch ist immer noch da, trotz Smartphone, Streaming und E-Reader. Jedes Medium ist gefährlich, wenn es exzessiv genutzt wird, jedes Medium bringt aber auch Chancen und Innovationen mit sich und in dieser Ambivalenz müssen auch die aktuellen Debatten um Smartphones und soziale Medien gesehen werden. Weder Radio, noch Fernsehen oder Video sind verboten worden, sondern Teil der Kultur geworden, es gab Regulierungen von der Lizenzierung von Fernsehsendern, bis zu Altersbeschränkungen und Verboten von Videos und so wird es vermutlich bei den aktuellen Debatten auch kommen. Missbrauch, wie bei den etablierten Medien in der Vergangenheit, eingeschlossen. Natürlich ist der Zugang zu den Medien immer leichter geworden, sie sind mittlerweile in Bild, Text und Ton ubiquitär. Mit den Gefahren sind aber auch die Möglichkeiten gewachsen. Wir sind als Gesellschaft noch dabei den Umgang mit diesen neuen medialen Dimensionen des Internets, Smartphones und der KI zu erlernen, das führt zu Konflikten im Aushandlungsprozess und zu Fehlentwicklungen bei der Freigabe und der Regulierung, das ist der normale gesellschaftliche Aushandlungsprozess, zu dem auch verschiedenen Stakeholder und deren asymmetrische Machtverhältnisse gehören. Vielleicht trägt das hier vorgestellte Fundstück aus dem Archiv des AV-Studios der Weibelfeldschule dazu bei, die Debatte etwas zu entspannen.
Übrigens: Dank Georg Schlamp bin ich letztes Jahr auf folgende Karikatur aus der schweizerischen Zeitschrift „Der Postheiri“ von 1863 aufmerksam geworden:
Auch das beruhigt, trotz der massenhaften Verbreitung von Büchern in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist die Jugend nicht verroht und die Zivilisation ist nicht untergegangen.
Vorbemerkung: Eine Reihe von bildungsaffinen Bloggern hat sich zum Ziel gesetzt, seit 2024 häufiger thematisch gemeinsam zu bloggen. Die Themenvorschläge werden an dieser Stelle gesammelt, (möglichst) alle Beiträge zum aktuellen Thema sind unter dem Beitrag zu finden. Wer sich beteiligen möchte, aber keinen Blog hat, kann gerne einen Beitrag einreichen – er wird dann als Gastbeitrag publiziert. Ich bin leider etwas spät dran, eigentlich war dieses Thema schon im Februar dran. Da mir das Thema aber besonders wichtig ist, schiebe ich jetzt noch einen Beitrag hinterher. Ich will auch gar keinen langen Text schreiben, aber auf einen meiner Meinung nach zentralen Zusammenhang hinweisen.
Ich habe mir in der letzten Zeit einige zugespitzte Sätze angewöhnt, um provokant auf Missstände im Bildungswesen hinzuweisen. Einer davon lautet: Wenn wir nicht sofort anfangen, Demokratie- und Medienbildung an Schulen in den Vordergrund zu stellen, können wir uns bald Mathe und Deutsch schenken. Wie meine ich das? Der politische Diskurs wird für Jugendliche zunehmend von sozialen Medien bestimmt. Diese funktionieren mit Algorithmen, die Empörung belohnen und Filterblasen erzeugen. Dadurch wird unsere Gesellschaft zunehmend polarisiert, der Diskurs verflacht oder wird unmöglich, die Welt wird bedrohlicher wahrgenommen als sie ist und extremistischer Propaganda und Rekrutierung jeglicher Couleur werden Tür und Tor geöffnet. Das wird zunehmend zu einem, meiner Meinung nach in Deutschland unterschätzten und ignorierten, Problem. Wir schützen unsere Jugend nicht vor den Gefahren der sozialen Medien. Gleichzeitig gelingt es uns immer weniger, den Jugendlichen den Wert von Demokratie zu vermitteln. Das mag daran liegen, dass Demokratie und Pluralismus als Selbstverständlichkeit angenommen werden, aber auch daran, dass Demokratie in sozialen Medien verächtlich gemacht wird, nicht zuletzt von Staatsoberhäuptern demokratischer Staaten oder durch Propaganda autoritärer Systeme. Eine wichtige Rolle spielt aber auch, dass Jugendliche in unserer Demokratie mit ihren Bedürfnissen kaum mehr wahrgenommen werden. Und das ist fatal. Jugendliche und deren Eltern stellen keine relevante Wählerschicht und werden folglich im politischen Diskurs weitgehend ignoriert. In den Schulen lernen sie in der Theorie, wie Demokratie funktioniert, dürfen aber nicht ernsthaft mitentscheiden, wie dort ein zentraler Teil ihres Lebens gestaltet wird. Das ist ein fatales Signal. Außerdem spiegeln der Zustand vieler Schulgebäude und deren Ausstattung oder Verpflegungsmöglichkeiten und Betreuungssituation den Jugendlichen täglich, wie wichtig dem Staat und der Gesellschaft deren Wohlbefinden ist. Die Jugendlichen leiden psychisch zunehmend unter ihrer gesellschaftlichen Situation. Am Ende haben wir es hier mit einer Paradoxie unseres politischen Systems zu tun. Eigentlich müsste es unser ureigenstes Interesse sein, eine Politik zu machen, mit der wir die Jugendlichen durch exzellente Ausbildung und Rahmenbedingungen befähigen, in Zukunft unser demokratisch-pluralistisches Staatswesen zu erhalten, ja sogar fortzuentwickeln. Für solche Investitionen wird man aber nicht wiedergewählt und eine Bundestagswahl findet alle vier Jahre statt, das ist der Zeitraum, in dem politische Zyklen gedacht werden und die relevanten Wählerschichten interessieren sich, zugegeben etwas zugespitzt, eben eher für Rente und Rindfleisch, ihren Heizungskeller, Gendern und Autobahnen oder die nächste Kreuzfahrt, da bleibt für gute Schulen, Kitas und Universitäten nichts mehr übrig, das zahlt sich an der Wahlurne halt nicht aus.