2024-22: Rede zum Abschlussfest Mittelstufe

An unserer Schule ist es gute Tradition neben dem Abiball mit akademischer Feier und Zeugnisausgabe auch ein Abschlussfest für die Mittelstufe zu veranstalten. Dort erhalten die Absolventinnen und Absolventen der Haupt- und Realschule ihre Abschlusszeugnisse und auch die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten des 10. Jahrgangs werden entsprechend gewürdigt. Ich wurde im Vorfeld gewarnt, dass die Reden der Schulleitung nicht allzu viel Aufmerksamkeit bekämen, daher habe ich mir etwas einfallen lassen und meine Rede kurz gehalten, auf allzu akademischen Duktus verzichtet und den Vortrag mit berühmten Memes illustriert. Ich glaube, das kam ganz gut an, daher habe ich beschlossen die Rede in meinem Blog zu veröffentlichen:

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Eltern, liebe Verwandte und Bekannte und alle anderen Anwesenden,

ich bitte euch und sie um einen Moment Aufmerksamkeit!

Ich finde, es ist eine schöne Tradition die Klassen H9, H10, R10 und G10 mit einer besonderen Veranstaltung zu verabschieden und damit zu feiern und zu würdigen. Das ist nicht selbstverständlich, sollte es aber sein.

Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, habt so ca. 9 bis 10 Jahre Schule hinter euch. Manche haben noch ein paar Jahre vor sich, andere beginnen eine Ausbildung, machen ein FSJ oder erst mal Pause. In jedem Fall müsst Ihr eine Entscheidung treffen!

Diese Entscheidung ist nicht leicht, sie kann euer ganzes Leben prägen!

Ich kann euch aber auch beruhigen, das muss sie nicht. Es ist natürlich schön, wenn ihr jetzt schon euren Beruf gefunden habt und dieser auch eure Berufung ist. Das deutsche Schulsystem bietet allerdings viele Wege der Nachqualifizierung. Jede und jeder hier hat immer noch ganz viele Chancen sich neu zu erfinden und etwas Anderes zu machen. Ich hatte mal einen Schüler am Abendgymnasium, der war in Bayern auf einer Förderschule, hat nach einer Ausbildung am Abendgymnasium das Abitur nachgeholt, Wirtschaftsinformatik studiert und ist jetzt bei einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Alles ist möglich, auch wenn die Bedingungen schwierig sind, am Ende habt ihr vieles in eurer Hand!

Vieles ist jetzt erst mal aufregend oder sogar furchteinflößend. Das ist völlig normal. Niemand von den zu ehrenden Schülerinnen und Schülern hier hat schon einmal eine Ausbildung oder ein Abitur gemacht. Es ist für euch alle das erste Mal! Wer davor keinen Respekt hat, möge sich nachher bei mir melden und mir sein Geheimnis verraten. Ich hatte mächtig Respekt, als es in die Oberstufe ging, als ich meinen Zivildienst angefangen habe, als es an die Uni ging und als ich mein Referendariat begonnen habe, als ich dann Lehrer wurde und erst recht, als ich letztes Jahr Schulleiter wurde. Das ist völlig normal. Aber nach einer gewissen Zeit, lebt man sich ein und die Ausbildung, der Job und seine Herausforderungen werden normal, man meistert seine Aufgabe.

Es wird aber auch nie alles glatt gehen. Einstein ist einmal sitzen geblieben, Gandhi hat mal Jura studiert, Stefan Raab ist eigentlich Metzger, Hugh Jackman war mal Sportlehrer und Party-Clown, Jay-Z Drogendealer, J.Lo Rechtsanwaltsgehilfin und ich habe mal Chemie studiert.

Wir alle machen Fehler oder gehen Umwege! Gerade, wenn wir etwas Neues anfangen. Lasst euch davon nicht beirren. Wir lernen aus Fehlern, wir dürfen nur nicht aufgeben. Habt ihr einmal beobachtet, wie ein kleines Kind laufen lernt? Richtig, es fällt ständig hin. Es käme aber nie auf die Idee nicht wieder aufzustehen und es immer wieder zu probieren. Und am Ende lernen wir eigentlich alle laufen. So ist es auch mit einer Ausbildung oder dem Abitur oder was auch immer noch kommt. Niemand kann etwas sofort, wir machen alle Fehler und das ist gut so. Steht dazu und lernt daraus!

Wichtig bei allen Herausforderungen, Siegen und Niederlagen, die unweigerlich auf euch zukommen ist: Bleibt euch treu, bleibt ihr selbst, oder , wie ich es schon in meiner Abirede auf Hip-Hop gesagt habe: Keep it real. Es kommen immer wieder verlockende Verführungen, diese können attraktiv, sogar sinnvoll sein. Bedenkt aber, ob sie es wert sind, dafür andere Dinge aufzugeben oder zu vernachlässigen. Eure Eltern, eure Familie, eure Freunde sind sehr wertvoll. Natürlich findet man im Leben neue Freundinnen und Freunde, aber, so ist zumindest meine Erfahrung, einige wenige Schulfreundinnen und -freunde, und die Familie meistens sowieso, bieten eine ganz besonders wertvolle Verbindung, die einen durch ein ganzes Leben tragen kann.

Auch, wenn ihr mal Mist gebaut habt, und ich weiß, dass das auf ein paar hier zutrifft, es ist nie zu spät das Richtige zu tun. Jede und Jeder hat in der Regel eine zweite Chance verdient und meine Erfahrung sagt, dass gerade die zweiten Chancen das Leben prägen. Manchmal kommen diese auf Einen zu, manchmal muss man sie sich erkämpfen. In jedem Fall solltet ihr sie ergreifen, wenn sie kommen.

Wie bereits gesagt, steht zu euren Taten und Fehlern, lernt daraus und macht es besser. Jetzt habe ich auch schon genug geredet, wir haben ein strammes Programm vor uns und es soll ja auch noch gefeiert werden.

Es ist schön, dass einige von euch noch bei uns bleiben und es ist schade, dass einige von euch uns verlassen. Ich hoffe, dass ihr die Weibelfeldschule, trotz alledem, in guter Erinnerung behaltet. Lasst von euch hören, wir Lehrer freuen uns immer zu hören, was aus euch geworden ist.

Feiert schön, lasst euch schön feiern und genießt den Abend, das Leben geht weiter und hat so viel zu bieten. Ich wünsche euch allen nur das Beste und mögen eure Träume und Wünsche in Erfüllung gehen!

2024-18: Schule und Kommune vernetzen im 21. Jahrhundert

Schule als „Dritter Ort“ und „School as a Service“

Ich durfte am 25. Mai 2024 bei einer Veranstaltung der Kinder- und Jugendfarm Dreieichhörnchen in Dreieich einen kleinen Impuls zum in der Überschrift genannten Thema einbringen. Ich bin sehr dankbar für diese Gelegenheit vor Vertreterinnen und Vertretern der Lokalpolitik zu sprechen, da ich so eines meiner Lieblingsthemen, kommunale Vernetzung für Bildung, einbringen konnte und ich hoffe, vielleicht einen initialen Funken gezündet zu haben, der in eine kommunal vernetzte Bildungslandschaft münden könnte.
Im Folgenden gebe ich den geplanten Vortrag wieder. Vor Ort bin ich gelegentlich vom Wortlaut abgewichen, um vorher Gesagtes aufzugreifen und flexibel zu agieren.

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik, aus den Vereinen und Verbänden, liebe „Hörnchen“ und alle sonst hier Versammelten,

mein Name ist Erik Grundmann und ich bin seit Beginn dieses Schuljahres der Schulleiter der Weibelfeldschule hier in Dreieich.

Vielen Dank für die Gelegenheit hier zu sprechen, ich freue mich, einen Impuls zum Thema Zukunft der Bildung in Dreieich beisteuern zu können.

Bitte verstehen Sie meine hier vorgetragenen Ideen nicht als fertiges Konzept, sondern als Denkanstöße. Wir brauchen für die Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts disruptive und agile Lösungen. Die Welt wird volatiler, unsicherer, komplexer und widersprüchlicher. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, brauchen wir neue Methoden, kreative Denkansätze, neue Arten von Kollaboration, Kommunikation und eine neue Art von Vernetzung.

Wir spüren glaube ich alle, dass unser Bildungssystem nicht mehr richtig funktioniert, das belegen die zahlreichen PISA, IGLU, IQB oder ifo-Studien und so weiter, die immer mal wieder kurz in den Medien aufflackern. Es scheint fast so, als hätten wir uns daran gewöhnt, das kann aber nicht unser Anspruch sein. Bildung ist unsere wichtigste Ressource für die Zukunft, wir können es uns nicht leisten, in allen internationalen Rankings immer schlechter zu werden. Ein Teil der Lösung kann sein, Bildung besser zu vernetzen, Schule zu einem integralen und mit außerschulischen Partnern vernetzten Teil einer Kommune zu machen und so mehr Selbstwirksamkeitserfahrungen für die Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen.

Ich bin deshalb hier, um über Lernorte, deren Vernetzung und deren Zukunft in Verbindung mit der Kommune zu sprechen. Ich will nicht über ideologisierte Schulformdebatten, den Fächerkanon oder ein überkommenes Verständnis von Unterricht sprechen, sondern über Lernorte in der Kommune.

Aktuell haben wir es mit einer Diffusion von Lernorten zu tun. Wir haben hier in Dreieich viele Orte zum Lernen, die in Teilen ansatzweise vernetzt sind, da ist aber sicher noch Luft nach oben. Die Schulen und frühkindlichen Bildungseinrichtungen sind eher geschlossene Institutionen, aus denen die Schülerinnen und Schüler selten rauskommen und in die nichtschulische Akteure zu selten reinkommen.

Allerdings findet die Diffusion der Lernräume auf mehreren Ebenen statt: Zu den realen und besonderen Lernorten, wie Schulen, Museen oder auch Kinder- und Jugendfarmen kommen zunehmend hybride und virtuelle Lernorte.

Mein Fokus als Schulleiter liegt naturgemäß auf dem Lernraum Schule, der sich lange Zeit selbst genug war. Es kann aber als erwiesen angenommen werden, dass außerschulische und unbewertete Lernorte für nachhaltigen Lernerfolg sorgen können.

1989 hat der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg das Konzept des Dritten Ortes in einem Buch vorgestellt. Ihm ging es darum, neben dem Zuhause und dem Arbeitsplatz dritte Orte zu schaffen, die einen Ausgleich zu den beiden anderen bieten und ein Treffpunkt für die Kommune sein sollen. Diese Orte sollten für alle zugänglich sein, soziale Unterschiede nivellieren, Orte der Konversation und des Diskurses sein, gut angebunden sein und noch ein paar weitere Funktionen erfüllen. In den letzten Jahren wurde dieses Konzept häufig auf Büchereien übertragen und umgesetzt. Warum sollten aber nicht auch Schulen solche Dritte Orte sein?
Schulen bieten räumlich und strukturell ideale Voraussetzungen dafür, sie sind in der Regel gut erreichbar und ihre Aufgabe ist es ohnehin einen demokratischen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Diese Dritten Orte können übrigens auch virtuell oder hybrid dargestellt werden.

Der Gedanke der Schule und der Bibliothek oder auch anderer Orte als Dritte Orte lässt sich wunderbar mit dem Gedanken einer „School as a Service“ verbinden. Die Idee dahinter stammt von der Aalto-Universität in Otaniemi, einem Stadtteil von Espoo in Finnland, wo sich auch der „Prototyp“ befindet, und geht davon aus, dass die Attraktivität einer Gemeinde eng mit einer lokalen kulturellen Identität zusammenhängt, die wiederum eng mit Möglichkeiten zur Nutzerzentrierung und Ko-Kreativität durch die Bürgerinnen und Bürger zusammenhängt. Der Gedanke ist es daher kommunale Einrichtungen zu vernetzen und zu öffnen. Schule spielt dabei eine zentrale Rolle und nebenbei entstehen interessante Synergieeffekte, da Räume und Orte intensiver, multifunktionaler und damit effizienter genutzt werden.

Vereinfacht heißt das zum Beispiel, dass an einer weiterführenden Schule ein Makerspace mit Werkstatträumen besteht, die am Vormittag von der Schule genutzt werden, am Nachmittag in hybriden Formen mit Schülerinnen und Schülern und Menschen von außerhalb des Schulbetriebes, die dort Angebote unter anderem für Schülerinnen und Schüler machen. Und am Abend stehen die Möglichkeiten dort der ganzen Kommune zur Verfügung, z.B. als Repair-Cafe. Genauso nutzen die Schülerinnen und Schüler aber auch andere Orte und Gebäude der Gemeinde, zum Beispiel das Bürgerhaus für Musikproben, das Rathaus für Schülerratssitzungen, natürlich Sportgelände, das Haus des lebenslangen Lernens, Büchereien und Museen, vielleicht aber auch städtische Werkstätten und ganz sicher die Kinder- und Jugendfarm.

Da wir gerade hier sind, erlauben Sie mir noch ein paar Worte dazu, warum gerade die Dreieichhörnchen ein relevanter Lernort sind. Kinder- und Jugendfarmen bieten zwei Dinge, die Schulen so nicht bieten können, nämlich unmittelbare Begegnungen mit der Natur und freies Spiel, beides so wichtig in unserer immer stärker technisierten und urbanisierten Welt. Auch wenn wir an der Schule Umweltklassen mit Ackerbau haben und selbst wenn wir Bewertungen in den Hintergrund rücken, können wir aufgrund des rechtlichen Rahmens keinen Ort für so viel selbstwirksame freie und kreative Entfaltung für Kinder bieten, wie die „Hörnchen“. Gerade Schülerinnen und Schüler, die im Kontext von Schule vielleicht nicht so gute Erfahrungen machen, können hier Selbstwirksamkeit und Resonanz erfahren. Das freie Spiel hat einen unschätzbaren Wert für die Entfaltung von Zukunftskompetenzen und das soziale Lernen, dass es einen eigenen Vortrag wert wäre. Daher müssen Kinder- und Jugendfarmen und andere Orte zur Begegnung mit der Natur und zum freien Spiel integrale Bestandteile in modernen kommunalen Bildungsnetzwerken sein! Wenn ich könnte, wie ich will, würde ich jeden Tag einen Bus voll Kinder von der Weibelfeldschule hierher schicken!

Natürlich muss so ein Netzwerk organisiert werden, braucht eine digitale und analoge Infrastruktur und Personal, ich könnte mir aber vorstellen, dass sich das lohnt.

Bei dem beschriebenen Projekt in Finnland bildet die Haukilahti Secondary High School das Zentrum der „School as a Service“, den Hub, also die Organisationszentrale. Hier laufen die Fäden der Vernetzung zusammen.

Den Gedanken der Bildungshubs habe ich Anfang April in meinem Blog schon einmal weiter ausgeführt. Der Hub bündelt Kompetenzen und ist eine Organisationszentrale für ein kommunales Bildungsnetzwerk. Hier finden sich pädagogische, medizinische, therapeutische, technische und andere Expertinnen und Experten, die sich dezentralisiert nicht „lohnen“, genauso wie spezialisierte Orte, wie Werkstätten oder kulturelle Einrichtungen. Hier sind aber auch die anderen kommunalen Bildungs- und Nicht-Bildungseinrichtungen angedockt, die das Netzwerk in die Kommune tragen.

Lassen Sie uns die disruptiven Veränderungen, wie Klimawandel, Künstliche Intelligenz, demografischer Wandel usw., die das 21. Jahrhundert mit sich bringt und die Veränderungen im Bildungssystem, wie Digitalisierung, Erzieher- und Lehrkräftemangel, Bildung für nachhaltige Entwicklung, den Ganztag usw. zum Anlass nehmen, Bildung und Kommune neu zu denken und zukunftsfähig zu machen. Wir müssen uns neu ausrichten, wenn wir weiter ein schönes Leben führen wollen, wir müssen wieder enger zusammenrücken und Solidarität und Gemeinschaft pflegen. Und wo macht es mehr Sinn anzufangen als bei den Kindern und Jugendlichen?

Im Grunde gilt auch heute noch, auch wenn wir das vielleicht vergessen hatten, das afrikanische Sprichwort: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf!

Hier gibt es die zugehörige Präsentation:

[Ein besonderer Dank geht an Michael Pallesche und die Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe für Inspirationen!]