2024-02: Die Rolle von Schule in der Gesellschaft

Wenn wir über Bildungspolitik diskutieren, geht es in der Regel um solche Schlagworte wie Schulformen, Bildungskanon, Vorbereitung auf den Beruf, Leistungsvermögen, Kompetenzen und so weiter.
Diese Diskussionen sind wichtig, verdecken aber eine viel wichtigere Diskussion, die gerade jetzt wieder mehr in den Vordergrund treten sollte:
Welche Rolle soll Schule bei der Reproduktion von Herrschaft in unserer Gesellschaft spielen?

Schule ist, neben dem Elternhaus und der Peer-Group, die zentrale Sozialisationsinstanz für die Gesellschaft. Die Lehrkräfte, deren Haltung und die curricularen Inhalte prägen nahezu alle Kinder und Jugendlichen, weil diese alle eine Schule besuchen müssen und dort viel Zeit in einer Phase verbringen, in der sich ihre Persönlichkeit formt. Die Rolle von Lehrkräften und das Klima in Schulen können also bei Sozialisationsprozessen kaum unterschätzt werden.
Ich fürchte, dass dieser Aspekt leider zu Gunsten der Stoffvermittlung allzu oft in den Hintergrund tritt. Ich halte das sogar für gefährlich.
Schule war schon immer die zentrale Instanz zur Reproduktion von Herrschaft. Der Beginn des öffentlichen Schulwesens und der damit verbundenen Schulpflicht diente dem viktorianischen Großbritannien zur Produktion von Verwaltern des Empires oder den Preußen zur Organisation des Militärs. Unter den Nationalsozialisten, wie eigentlich in allen Diktaturen, wurde schon die Grundschule genutzt um die Nazi-Propaganda mit dem Ziel der „Gleichschaltung“ früh in den Köpfen zu verankern. Die DDR hat über Zugänge zu höheren Bildungsgängen ideologische Treue belohnt und Subversion durch Verweigerung dieser Zugänge bestraft.
Als Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus haben sich die deutschen Bundesländer Verfassungen und Schulgesetze gegeben, die den Auftrag der Schulen an die Grundsätze der Humanität und der Demokratie gebunden haben.
In Artikel 56, Abs. 4 und 5 der Hessischen Verfassung heißt es zum Beispiel:

(4) Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tüchtigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit.
(5) (…) Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden.

Quelle.

Das klingt zwar etwas altbacken, aber die Idee dahinter ist klar: Verantwortung gegenüber der Menschheit, Nächstenliebe, Rechtlichkeit, Wahrhaftigkeit und die Verteidigung der Grundlagen des demokratischen Staates. Das ist der vornehmste und wichtigste Auftrag von Schule in der Gesellschaft!
Dort steht nichts von Infinitesimalrechnung, vom Ohmschen Gesetz, ja nicht einmal von Rechtschreibung. Das ist sicher auch alles richtig und wichtig, aber noch wichtiger ist es, gerade jetzt, die Kinder und Jugendlichen zu Trägerinnen und Trägern und zu Verteidigerinnen und Verteidigern unserer Demokratie und unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu machen. Wir müssen sie außerdem zu einem humanen und verantwortungsvollen Miteinander untereinander und gegenüber unserem Planeten bilden. Auch das ist der vornehmste und wichtigste Auftrag von Schule in der Gesellschaft!
Leider sind diese vornehmen und wichtigen Ziele im Zuge der Debatten um Leistung und im Rahmen der zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft in den Hintergrund getreten. Gerade jetzt ist aber die Zeit, diese Debatten wieder in den Vordergrund zu rücken. Unsere menschlichen Errungenschaften und unsere Demokratie geraten zunehmend unter Druck und werden von Feinden der Demokratie und der Menschlichkeit herausgefordert. Wir Lehrkräfte müssen uns dem mit all unserer Kraft entgegenstellen und alles daran setzen, wenigstens die nachfolgenden Generationen zu befähigen, mit einer Welt zurecht zu kommen, die in vielerlei Hinsicht herausfordernder wird.
Das wird uns mit einem „weiter so“ nicht gelingen. Dafür bedarf es neuer Mittel und Wege, dafür bedarf es Kinder, die bereit sind ihre Energie in ein globales Miteinander zu stecken, die bereit sind Gewohnheiten in Frage zu stellen und Verhaltensweisen zu verändern.
Es ist unsere Aufgabe als Lehrkräfte sie dazu zu befähigen und der müssen wir vor allem anderen gerecht werden. Wenn wir das wollen, müssen wir anfangen Schule und damit unsere Welt zu verändern. Wir sollten in der Schule den Anspruch haben nicht nur die bestehende Gesellschaft zu reproduzieren, sondern eine bessere Gesellschaft zu schaffen, natürlich nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten ideologischen Indoktrination, sondern im Sinne unserer oben zitierten Verfassung und im Sinne unseres Grundgesetzes. Wir müssen schon in der Schule echte Demokratie und würdevolle Menschlichkeit in der gesamten Schulgemeinschaft üben und leben. Jeden Tag!

Nachträge nach Veröffentlichung

Der Deutsche Bildungsserver bietet eine Blogseite mit zahlreichen Anregungen und Beiträgen zum Themenkomplex Demokratie und Bildung:
https://blog.bildungsserver.de/category/themen/demokratie-und-bildung/.

2023-05: PISA mal etwas anders betrachtet

Viel, aber auch nicht zu viel, wurde in den letzten Tagen zur neuen PISA-Studie geschrieben. Viel Richtiges, aber auch viel Unsinn. Corona hat mit dem schlechten Abschneiden so gut wie nichts zu tun und Migration spielt eine Rolle, aber nicht die entscheidende.
Spannend für mich war zu beobachten, ich habe die Pressekonferenz im Livestream verfolgt, dass die Ministerin fehlte, die KMK-Vorsitzende Berliner Programme als Lösungen präsentierte und der Staatssekretär Binsenweisheiten verbreitete. Die Kernergebnisse der Studie waren ja, dass Deutschland im Lesen, in Mathematik und in Naturwissenschaften schwach ist, dass Bildung immer noch zu stark von der sozialen Herkunft abhängt und, dass darauf reagiert werden müsse. So weit so gut, so nicht neu; man kann, frei nach dem bekannten Film mit Bill Murray, mit Fug und Recht von einer „Murmeltierstudie“ sprechen. Genauso murmeltierig kommen die Reaktionen aus der Bildungspolitik daher: Bildung muss früher ansetzen, am besten in der Kita, wir brauchen qualitativ hochwertige Ganztagsangebote, zielgerichtete Förderung für benachteiligte Schülerinnen und Schüler usw. Ach ja, das Startchancen-Programm werde all das bringen.
Wir wissen alle, dass das wohl nicht der Fall ist, dass der Digitalpakt 2 in der Schwebe ist, dass das Startchancen-Programm unterdimensioniert ist und die Investitionsschuld alleine in die Gebäudesubstanz der Schulen bei mindestens 30 Mrd. Euro liegt.
Interessant war auch, dass aus der Presse kaum Nachfragen zur Studie kamen, anscheinend ist niemand überrascht und die Erwartungen wurden erfüllt. Der wirklich große Aufschrei blieb ja auch aus. Innerhalb der Bildungsbubble war Empörung spürbar, aber eher Zynismus, Resignation und das Gefühl verhöhnt zu werden. Bildung und Kinder scheinen in diesem Land kaum Stellenwert zu besitzen.
Wer genau hingehört hat, hat aber vielleicht vernommen, dass aus manchen vornehmlich professoralen Ecken, die Forderung kam, wieder strenger bewerten zu müssen, als ob das eine Lösung wäre. Der Philologenverband sieht in der Studie die Gliedrigkeit des Schulsystems (so Lin-Klitzing auf LinkedIn) bestätigt, wo auch immer das zu lesen sein soll.
Die Autoren der Studie haben auf der Pressekonferenz aber eigentlich gefordert, was in der Debatte wenig Erwähnung findet, dass vier Reaktionen nötig wären:

  1. Schulen brauchen bedarfsorientierte Zuwendungen!
  2. Schülerinnen und v.a. Schüler brauchen mehr Leseförderung!
  3. Schule und Unterricht brauchen eine stärkere Anknüpfung an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler!
  4. Es braucht mehr Förderprogramme wie nach der 1. Studie von 2001. Diese Programme sind mittlerweile, trotz Wirksamkeit, allesamt ausgelaufen!

Keiner dieser Punkte scheint im Moment ernsthaft diskutiert zu werden. (Ja, ich weiß: Startchancenprogramm…).
Ich habe aber noch eine wirklich andere These in die Debatte einzubringen. Was, wenn sowohl das Schulsystem als auch die PISA-Studie mittlerweile anachronistisch sind? Was wenn die Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler (fast) nichts mehr mit der Lebensrealität von Schule und damit den von PISA gemessenen Inhalten und Kompetenzen zu tun hat?
Thomas Ferber, der Schulleiter der Richtsbergschule in Marburg, hat neulich in einer Keynote, die gleichermaßen interessante wie provokante These aufgestellt, dass in fünf bis zehn Jahren die Schülerinnen und Schüler nicht mehr in die Schule kommen werden, weil das was dort passiert nichts mehr mit ihnen zu tun hat.
Die erste PISA-Studie hat den Begriff der Lesefähigkeit durch den Begriff der Literacy ersetzt, der stärker auf die Kompetenzebene fokussiert. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Die rasante Veränderung der Welt durch KI, soziale Medien und durchaus besorgniserregende gesellschaftliche und politische Prozesse, ganz zu schweigen vom Klimawandel, erfordern aber ganz andere Fähigkeiten. Die Kompetenzebene muss noch stärker betont werden, wir brauchen einen Fokus auf Digital-Literacy, der den Umgang mit Wissen in einer Kultur der Digitalität einbezieht, mit Wissen dessen Erreichbarkeit eine ganz andere Dimension angenommen hat, das aber auch zunehmend fragiler wird, z.B. durch Deep-Fakes (nicht nur von Bildern).
Was will ich damit sagen? Ich fürchte, selbst wenn wir jetzt ernsthaft die vorgeschlagenen Konsequenzen aus PISA ziehen würden, greift das zu kurz. Wir müssen noch weiter denken. Wir müssen anfangen die Systemfrage zu stellen. Wir brauchen eine neue Vorstellung von Bildung im 21. Jahrhundert und damit ein neues Schulsystem.

Nachträglich ergänzt:

Interessant ist der englische Ansatz in diesem Zusammenhang. England habe sich durch eine Abkehr von kompetenzorientierten Lehrplänen und einer stärkeren Vermittlung von Fachwissen in der PISA-Studie kontinuierlich verbessert, obwohl PISA ja Kompetenzen abprüft: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/england-welche-reformen-haben-zur-bildungswende-gefuehrt/.
Ich denke, dass Fachwissen die Basis für Kompetenzen ist und war. Wichtig ist dabei ein Fokus auf das relevante Grundlagenwissen.

Noch zwei Interviews mit Olaf Köller von der SWK:
https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/olaf-koeller-was-jetzt-aus-pisa-2022-folgen-muss/
https://www.jmwiarda.de/2024/01/29/ist-pisa-in-deutschland-ein-auslaufmodell/?s=09.