2023-05: PISA mal etwas anders betrachtet

Viel, aber auch nicht zu viel, wurde in den letzten Tagen zur neuen PISA-Studie geschrieben. Viel Richtiges, aber auch viel Unsinn. Corona hat mit dem schlechten Abschneiden so gut wie nichts zu tun und Migration spielt eine Rolle, aber nicht die entscheidende.
Spannend für mich war zu beobachten, ich habe die Pressekonferenz im Livestream verfolgt, dass die Ministerin fehlte, die KMK-Vorsitzende Berliner Programme als Lösungen präsentierte und der Staatssekretär Binsenweisheiten verbreitete. Die Kernergebnisse der Studie waren ja, dass Deutschland im Lesen, in Mathematik und in Naturwissenschaften schwach ist, dass Bildung immer noch zu stark von der sozialen Herkunft abhängt und, dass darauf reagiert werden müsse. So weit so gut, so nicht neu; man kann, frei nach dem bekannten Film mit Bill Murray, mit Fug und Recht von einer „Murmeltierstudie“ sprechen. Genauso murmeltierig kommen die Reaktionen aus der Bildungspolitik daher: Bildung muss früher ansetzen, am besten in der Kita, wir brauchen qualitativ hochwertige Ganztagsangebote, zielgerichtete Förderung für benachteiligte Schülerinnen und Schüler usw. Ach ja, das Startchancen-Programm werde all das bringen.
Wir wissen alle, dass das wohl nicht der Fall ist, dass der Digitalpakt 2 in der Schwebe ist, dass das Startchancen-Programm unterdimensioniert ist und die Investitionsschuld alleine in die Gebäudesubstanz der Schulen bei mindestens 30 Mrd. Euro liegt.
Interessant war auch, dass aus der Presse kaum Nachfragen zur Studie kamen, anscheinend ist niemand überrascht und die Erwartungen wurden erfüllt. Der wirklich große Aufschrei blieb ja auch aus. Innerhalb der Bildungsbubble war Empörung spürbar, aber eher Zynismus, Resignation und das Gefühl verhöhnt zu werden. Bildung und Kinder scheinen in diesem Land kaum Stellenwert zu besitzen.
Wer genau hingehört hat, hat aber vielleicht vernommen, dass aus manchen vornehmlich professoralen Ecken, die Forderung kam, wieder strenger bewerten zu müssen, als ob das eine Lösung wäre. Der Philologenverband sieht in der Studie die Gliedrigkeit des Schulsystems (so Lin-Klitzing auf LinkedIn) bestätigt, wo auch immer das zu lesen sein soll.
Die Autoren der Studie haben auf der Pressekonferenz aber eigentlich gefordert, was in der Debatte wenig Erwähnung findet, dass vier Reaktionen nötig wären:

  1. Schulen brauchen bedarfsorientierte Zuwendungen!
  2. Schülerinnen und v.a. Schüler brauchen mehr Leseförderung!
  3. Schule und Unterricht brauchen eine stärkere Anknüpfung an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler!
  4. Es braucht mehr Förderprogramme wie nach der 1. Studie von 2001. Diese Programme sind mittlerweile, trotz Wirksamkeit, allesamt ausgelaufen!

Keiner dieser Punkte scheint im Moment ernsthaft diskutiert zu werden. (Ja, ich weiß: Startchancenprogramm…).
Ich habe aber noch eine wirklich andere These in die Debatte einzubringen. Was, wenn sowohl das Schulsystem als auch die PISA-Studie mittlerweile anachronistisch sind? Was wenn die Lebensrealität der Schülerinnen und Schüler (fast) nichts mehr mit der Lebensrealität von Schule und damit den von PISA gemessenen Inhalten und Kompetenzen zu tun hat?
Thomas Ferber, der Schulleiter der Richtsbergschule in Marburg, hat neulich in einer Keynote, die gleichermaßen interessante wie provokante These aufgestellt, dass in fünf bis zehn Jahren die Schülerinnen und Schüler nicht mehr in die Schule kommen werden, weil das was dort passiert nichts mehr mit ihnen zu tun hat.
Die erste PISA-Studie hat den Begriff der Lesefähigkeit durch den Begriff der Literacy ersetzt, der stärker auf die Kompetenzebene fokussiert. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Die rasante Veränderung der Welt durch KI, soziale Medien und durchaus besorgniserregende gesellschaftliche und politische Prozesse, ganz zu schweigen vom Klimawandel, erfordern aber ganz andere Fähigkeiten. Die Kompetenzebene muss noch stärker betont werden, wir brauchen einen Fokus auf Digital-Literacy, der den Umgang mit Wissen in einer Kultur der Digitalität einbezieht, mit Wissen dessen Erreichbarkeit eine ganz andere Dimension angenommen hat, das aber auch zunehmend fragiler wird, z.B. durch Deep-Fakes (nicht nur von Bildern).
Was will ich damit sagen? Ich fürchte, selbst wenn wir jetzt ernsthaft die vorgeschlagenen Konsequenzen aus PISA ziehen würden, greift das zu kurz. Wir müssen noch weiter denken. Wir müssen anfangen die Systemfrage zu stellen. Wir brauchen eine neue Vorstellung von Bildung im 21. Jahrhundert und damit ein neues Schulsystem.

Nachträglich ergänzt:

Interessant ist der englische Ansatz in diesem Zusammenhang. England habe sich durch eine Abkehr von kompetenzorientierten Lehrplänen und einer stärkeren Vermittlung von Fachwissen in der PISA-Studie kontinuierlich verbessert, obwohl PISA ja Kompetenzen abprüft: https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/england-welche-reformen-haben-zur-bildungswende-gefuehrt/.
Ich denke, dass Fachwissen die Basis für Kompetenzen ist und war. Wichtig ist dabei ein Fokus auf das relevante Grundlagenwissen.

Noch zwei Interviews mit Olaf Köller von der SWK:
https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/olaf-koeller-was-jetzt-aus-pisa-2022-folgen-muss/
https://www.jmwiarda.de/2024/01/29/ist-pisa-in-deutschland-ein-auslaufmodell/?s=09.