2025-04: Wird Schule Hyperkomplex? (Oder sogar unser ganzes Leben?)

Ich habe heute mit meinem ehemaligen Chef telefoniert und er hat mir erzählt, dass er im Moment gerne den Begriff „unterkomplex“ gebraucht, aus Gründen. Mir ist daraufhin eingefallen, dass ich im letzten Mai bereits einen Blogartikel geschrieben habe, in dem ich feststelle, dass wir Schule unterkomplex organisieren, was ich daran festmache, dass wir viele Konzepte für einzelne Themen (Demokratiebildung, Medien, Sucht- und Gewaltprävention usw.) schreiben, die alle schön nebeneinander stehen. Eigentlich müssten diese aber alle zusammengedacht werden, da sie inhaltlich zusammenhängen, diese Zusammenhänge also komplexer sind als wir sie in den Konzepten abbilden und dass deshalb diese Konzepte oft wirkungslos bleiben.
Diese Beobachtung bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass die in der Schule und überhaupt abgebildete Realität komplexer wird. Diese Vorstellung ist ja nicht neu und bestimmt den öffentlichen Diskurs schon länger, vermutlich seit Beginn der Neuzeit, mit dem auch technische und wissenschaftliche Entdeckungen sich beschleunigend zunehmen. Dies führt natürlich zu gesellschaftlichen Verwerfungen, zu so genannten Disruptionen, Brüchen, die nicht ohne Konflikte vonstatten gehen. Frederic Laloux spricht in seinem Buch „Reinventing Organisations“ vom erreichen einer neuen Evolutionsstufe, Andreas Reckwitz von einer Gesellschaft der Singularitäten, wir ordnen uns ins Zeitalter der Postmoderne ein, Colin Crouch hat zur Jahrtausendwende den Begriff der Postdemokratie geprägt und immer wieder ist die Rede, auch in meinen Beiträgen, von einer VUCA- oder BANI-Welt, diese Akronyme enthalten ja die Begriffe Komplexität und Unbegreiflichkeit.
Aladin El Mafaalani spricht im Bezug auf Schule immer wieder von Superdiversität im Klassenzimmer und meint damit eine Steigerungsform der allseits bekannten Heterogenität der Lernenden, mit der es Schulen zu tun haben. Die psychischen Belastungen der Schülerinnen und Schüler nehmen zu, die Anzahl der Inklusionsfälle, der Förderpläne, die curricularen Inhalte, die Forderung nach neuen Fächern, die Dokumentationspflichten, die Rechtsverordnungen, die statistischen Erfassungen, die Datenschutzformulare, die zu erstellenden Konzepte und so weiter. All das sind Symptome einer zunehmenden Komplexität in der Schule im Besonderen und in der Gesellschaft im Allgemeinen. All dies führt zu einer Überforderung der einzelnen Akteure in den Schulen, aber auch in der Gesellschaft (und da haben wir noch gar nicht über internationale Politik oder den politischen Diskurs in Deutschland im Besonderen gesprochen, was ich an dieser Stelle auch ausspare beziehungsweise im Epilog anspreche).
In jedem Fall führt diese zunehmende Überforderung der Einzelnen, die der oder die Einzelne ja auch nicht so ohne weiteres zugeben kann, zu mehr Konflikten und Vandalismus in Schule und Gesellschaft und zu mehr Krankheitstagen und Burnout. Irgendwo muss dieses Gefühl der Überforderung und Getriebenheit ja auch hin.
Gleichzeitig, und das zeigt zum Beispiel der aktuelle Wahlkampf, verspricht man uns, das alles zumindest so bleibt wie es ist, oder, besser noch, so schön wird, wie es früher einmal gewesen sein soll. Natürlich wünschen wir uns eine vermeintliche Einfachheit (und Unschuld) zurück, die es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Natürlich ist es einfacher, wenn wir den Klimawandel einfach ignorieren und uns glauben machen, dass mit der Rückkehr der Atomkraft Energie billiger und umweltfreundlicher wird. All das sind verständliche Reaktionen auf die zunehmende Komplexität der Welt. Aber insgeheim wissen oder spüren die meisten Menschen instinktiv auch, das hoffe ich zumindest, dass es so nicht funktionieren wird.
Also müssen wir uns der Komplexität stellen, wir müssen einsehen, dass es keine einfachen Lösungen gibt, dass es Anstrengungen bedarf unseren Wohlstand und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu erhalten. Das Versprechen eines vermeintlich immer einfacheren Lebens mit immer mehr Wohlstand und Konsum geht nicht mehr auf, wir brauchen eine neue Vision, einen neuen Konsens.
Zurück zu meinem eigentlichen Thema. Für Schule und Bildung bedeutet das, dass wir eine neue Form von Bildung und Erziehung entwickeln müssen, die noch mehr das Miteinander und einen bewussten Konsum in den Fokus nimmt. Demokratie- und Menschenbildung, dazu Medienkompetenz und Resilienztraining, kritisches Denken und Kompetenzen in Kommunikation und Kollaboration, kreativer Umgang mit Herausforderungen und so weiter müssen im Vordergrund stehen und kein Prüfungs- und Fächerkult.

Epilog
Ich habe leider Zweifel, dass uns das nötige Umdenken aktuell gelingen kann und das hat mit einer Beobachtung zu tun, die ich jeden morgen auf meinem Schulweg mache, wenn ich die Darmstädter Straße überquere und die Wahlplakate am Gitter der Brücke über den Hengstbach sehe und unser aktueller Bundeskanzler darauf „Mehr für Dich“ verspricht (andere Parteien versprechen das auf ähnliche Weise). Dieses Versprechen ist aus wahlkämpferischer Sicht verständlich, wer würde schon eine Partei wählen, die weniger verspricht. Aber eigentlich müssten wir genau darüber sprechen. Wir werden weniger Renten bekommen, wir werden weniger konsumieren müssen, wir werden weniger Reisen können, wir werden uns im Allgemeinen mit weniger zufrieden geben müssen, alleine schon weil die Ressourcen knapper werden und weil die Gesellschaft einem demographischen Wandel unterliegt. Insofern ist auch das Versprechen „Mehr für alle“ eine viel zu einfache Antwort auf die komplexen Probleme mit denen wir konfrontiert sind. Das gilt für viele andere Versprechen im Wahlkampf genauso.
Der Schlüssel für die Lösung unserer Probleme ist eine andere Bildung. Wenn wir den nächsten Generationen schon einen ausgebeuteten und geschundenen Planeten mit fragmentierten Gesellschaften in einer gegebenenfalls neoimperialistischen Weltordnung hinterlassen, sollten wir ihnen wenigstens schon jetzt eine Bildung zukommen lassen, die sie in die Lage versetzt mit dieser Hinterlassenschaft umzugehen.

Redaktionelle Anmerkung
In einer ersten Version des Artikels wurde im Epilog der Slogan auf dem Wahlplakat falsch zitiert („Mehr für alle“). Die korrekte Version verändert die inhaltliche Aussage aber nicht.

2024-17: Organisieren wir unsere Schulen unterkomplex?

Dies wird kein langer Text, aber hoffentlich ein interessanter Diskursbeitrag zu einer Thematik, die mich schon länger beschäftigt.

Wir schreiben in den Schulen und das scheint natürlich grundsätzlich sinnvoll, Konzepte, die uns Orientierung bieten sollen, wie wir mit Herausforderungen umgehen und wie Arbeitsabläufe organisiert sind. Es gibt Konzepte gegen Drogenmissbrauch, gegen Gewalt oder sexualisierte Gewalt, gegen Absentismus, zur Mediennutzung oder für soziales Lernen usw. Diese Konzepte stehen dann nebeneinander und erfüllen leider nicht immer ihren Zweck.‘

Das hat meiner Meinung nach zwei wesentliche Ursachen.

Zum einen werden diese Konzepte meist von kleinen Gruppen, der Schulleitung oder aus den Ministerien entwickelt und sie kommen bei den Lehrkräften nicht wirklich an, weil diese keine Co-Agency, keine „Mitwirksamkeit“ entfalten, platt gesagt, weil diejenigen, die die Konzepte ausführen sollen, nicht mitgenommen werden (und außerdem in den konkreten Situationen der Vorstellung und Umsetzung mit viel zu vielen anderen Dingen und Prioritäten des überfrachteten Schulalltags beschäftigt sind). So entfalten die Konzepte keine Wirksamkeit im Schulleben und im Unterricht und werden im ungünstigsten Fall als Belastung wahrgenommen.

Zum anderen werden hier Themen auseinanderdividiert, die eigentlich zusammen gehören. Das macht die Sache anscheinend einfacher, verfehlt aber den Punkt. Wer Probleme mit Drogen oder Medien hat, neigt unter Umständen zu mehr Gewalt oder Absentismus. Und am Ende sind die Ursachen für Suchtverhalten oder Herausforderungen im Verhalten immer individuell und daher schwer „konzeptierbar“.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, was aus dieser Analyse folgt?
Ich glaube, wir müssen all diese Aspekte zusammen denken, was leider eine hochkomplexe Herausforderung ist. Wir leben eben in einer immer komplexeren Welt (Vgl. Newsletter 02 zur VUCA-Welt). Wenn wir den größer werdenden Herausforderungen begegnen wollen, brauchen wir eine Art „Meta-Konzept“, welches unsere Aufgaben vernetzt und agil bleibt, welches außerdem noch an der Haltung aller Teile der Schulgemeinschaft ansetzt und daher auch von diesen erarbeitet und immer wieder neu evaluiert und verhandelt werden muss. Alle Konzepte sind sinnlos, wenn sie nicht von der Schulgemeinschaft getragen werden. Das ist schwierig und bedarf Ressourcen und externer Expertise, aber es könnte sich lohnen. Oder?

Nachträge:
Im weiteren Sinne passt auch dieser Beitrag von Florian Nuxoll, in dessen Subtext deutlich wird, dass die größten Veränderungen erst anstehen: https://www.campus-schulmanagement.de/magazin/kolumne/zu-viele-reformen-und-veraenderungen-in-den-schulen-die-groesste-veraenderung-kommt-erst-noch.