
Mein Professor sah mich an und sagte: „Ihre Leistungen reichen nicht aus. Suchen Sie sich besser etwas anderes.“ Das war der Moment, in dem mein Plan im Kopf zerbrach – und ich zum ersten Mal wirklich scheiterte.
Heute bin ich in meinen 50ern, Schulleiter der größten Schule im Kreis, habe ein solides virtuelles und reales Netzwerk und eine glückliche Familie.
Man kann sagen, ich habe es geschafft, das war bestimmt eine glatte Nummer, gute Schulnoten, konsequentes Studium, sehr gute Examina und dann Karriere im Staatsdienst. Was will man mehr?
Aber so war das nicht. Dass ich dort ankomme, wo ich jetzt bin, war weder durchgeplant noch vorhersehbar. Meine „Karriere“ ist durchzogen von Zweifeln, Unentschlossenheit, Rückschlägen und – ja auch das – echtem Scheitern.
Jan-Martin Klinge hat auf „Halbtagsblog“ Ende Oktober über „Lernen durch Schmerz“ geschrieben und dabei von eigenen Rückschlägen berichtet, Susanne Posselt ist auf „Bildungsweise“ am 01. November gefolgt und hat über „Geschichten über Schmerz und Versagen“ geschrieben. Nele Hirsch hat kürzlich „Über persönliche Krisen in der pädagogischen Tätigkeit“ gebloggt. Dieser Beitrag ist auch schon etwas länger in Planung und natürlich fällt mir das nicht leicht, wer schreibt schon gerne über Misserfolge und veröffentlicht das dann auch noch in der Bling-Bling-Social-Media-Bildungsbubble, wo es um Erfolge geht, reformierte Schulen, lernwirksamen Unterricht, perfekt didaktisiertes Material, das Ganze am besten noch garniert mit hippem Lifestyle.
Warum schreibe ich also vom Scheitern?
Als Schulleiter habe ich eine ganz besondere Vorbildfunktion. Ich stehe im Fokus von Schülerinnen und Schülern, von Kolleginnen und Kollegen, von Eltern, ja sogar ein wenig im Fokus der lokalen Öffentlichkeit und, in meinem Fall, auch im Fokus der Bildungsblase in der nationalen Netz-Öffentlichkeit. Dort sind in der Regel Erfolge zu sehen, die ich mit der Schulgemeinschaft oder persönlich erreicht habe und die ich feiere. Dort agiere ich meist meinungsstark und planvoll, es sieht so aus, als hätte ich mein Leben, meinen Job und mein Bild in der Öffentlichkeit fest im Griff. Und das ist ja auch wichtig und entspricht den Erwartungen an mich als Person und meine Funktion.
Von außen wirkt es oft, als sei ich souverän, planvoll und sicher in meinen Entscheidungen. Doch das Bild kennt nur die Ergebnisse, nicht den Weg dorthin.
In Wahrheit bin ich häufig ein eher grüblerischer und zögerlicher Mensch, ich reflektiere Entscheidungen wenn ich kann und wäge ab, versuche andere Perspektiven einzunehmen und weiß, dass es oft nicht nur ein Ja oder Nein gibt, sondern, dass die Wahrheit oft in Graubereichen einer Zwischenwelt liegt. Als Gesellschaftswissenschaftler weiß ich, dass Probleme multikausale Ursachen haben und es Interdependenzen gibt, dass Entscheidungen oft eine dilemmatischen Charakter haben, gerade wenn es um Menschen und deren Zukunft geht. Auch wenn es vielleicht manchmal so aussieht, es ist nicht einfach und bereitet schon gar kein Vergnügen, einer Schülerin das Handy abzunehmen oder einen Schulverweis in einer Klassenkonferenz zu beantragen. Doch das gehört zu meinem Job und zu meinem pädagogischen Erziehungsauftrag.
Aber ich wollte ja eigentlich über das Scheitern schreiben.
Mein erster Scheiternsmoment
Für mich und mein Umfeld war eigentlich schon recht früh klar, dass ich mich in Richtung Naturwissenschaften entwickle. Ich hatte als Kind schon Chemie- und Elektrobaukästen, habe experimentiert und gelötet, entsprechende Bücher gelesen und mich mit naturwissenschaftlichen Themen beschäftigt. Folgerichtig hatte ich Leistungskurs Chemie und mein Lehrer hatte mir einmal gesagt, dass ich der einzige Schüler in dem Kurs sei, dem er ein Chemiestudium zutraue. Also habe ich mich für das Gymnasiallehramt mit den Fächern Politik und Chemie an der Universität eingeschrieben. Der Start verlief auch recht gut, anorganische und, mit mehr Schwierigkeiten, organische Chemie habe ich gemeistert, doch die physikalische Chemie sollte meine Nemesis werden. Hier zeigte sich, was ich vielleicht sogar schon vorher hätte wissen können, dass meine Mathekenntnisse nicht ausreichten. Ich bin gnadenlos durch die Kolloquien gefallen, bekam von meinem Professor gesagt, dass meine Leistungen nicht ausreichten und ich mir alternative Gedanken machen sollte. Das fiel mir nicht leicht, da ich mich ja schon lange für einen Naturwissenschaftler hielt und auch diese Erwartung an mich bestand, außerdem hatte ich eher etwas später mit dem Studium begonnen und anscheinend Zeit für einen Irrweg verschwendet. Ich hielt mich für jemanden, der Naturwissenschaften kann – und plötzlich gehörte ich nicht mehr dazu. Das war nicht nur ein Studienabbruch. Es war ein Identitätsbruch.
Ich musste mir das Scheitern eingestehen und einen alternativen Weg gehen. Dieser führte mich dann zu meinem Geschichtsstudium, dass ich zu keiner Zeit bereut habe. Vermutlich entsprechen die Gesellschaftswissenschaften sogar eher meinem Talent und Naturell, das wurde mir jedoch erst später klar.
Ich war auch nicht immer ein brillanter Schüler, auch wenn ich ein gutes Abitur gemacht habe, so bin ich in der 8. und 9. Klasse knapp um eine Wiederholung herumgekommen. Mein Studium ging weit über die Regelstudienzeit hinaus, unter anderem weil ich als Baseballfunktionär sehr aktiv war (siehe CV) und weil ich gerne viele Vorlesungen besucht habe und in andere Fachbereiche, wie Philosophie, Kunst- und Kirchengeschichte, reingeschnuppert habe. Am Ende waren dann aber alle meine Freunde mit der Uni fertig, in Jobs und konnten sich Dinge leisten, die für mich nicht drin waren, also musste ich schnell aus meiner studentischen Komfortzone raus. Doch halt, eigentlich sollte ich ja sogar in Geschichte promovieren, ich hatte sogar schon einen Doktorvater, aber die finanzierende Stiftung hat mich abgelehnt, weil ich zu alt war.
Ich kam also in einem leicht fortgeschrittenen Alter ins Referendariat, welches ich passabel bewältigt habe, meine 2. Staatsexamen war keine Glanzleistung, ich wollte wohl in den beiden Examensstunden zu viel.
Ein weiterer Moment des Scheiterns war mein Versuch Schulleiter an meiner vorherigen Schule zu werden. Ich wurde nicht ausgewählt, ein beamtenrechtlich normaler Vorgang.
Dazu kommen natürlich unzählige kleine Alltagsniederlagen. Wenn man etwas bewegen will, erleidet man immer wieder Zweifel, Unentschlossenheit, Rückschläge und Scheitern.
Scheitern als Chance
All diese Momente sind aber auch, wenn man sie reflektiert, Lerngelegenheiten, um es beim nächsten Mal besser zu machen.
Ich habe gelernt Rückschläge und Scheitern als Chance zu sehen und rückblickend kann ich meine Momente des Scheiterns auch so interpretieren. Ich bin heute froh, dass ich Geschichte und nicht Chemie studiert habe. In Kombination mit Politik kann ich so gesellschaftliche und historische Zusammenhänge viel tiefer durchdringen und besser erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Die lange Studiendauer und der Blick über den Tellerrand unterstützen das. Trotz meines eher schwachen zweiten Staatsexamens bin ich dann recht schnell für ein paar Jahre in der Lehrkräfteausbildung tätig gewesen, so schlecht kann ich also als Lehrer nicht gewesen sein. Und im Rückblick war der Wechsel an die Weibelfeldschule für mich sehr positiv und ich bereue den Schritt nicht, im Gegenteil, auch hier folgte auf die Enttäuschung des Scheiterns eine neue und vermutlich bessere Perspektive.
Fazit
Biografien verlaufen also selten gradlinig, man muss offen für Veränderungen sein, wenn sich Türen schließen, öffnen sich andere, wenn sich Gelegenheiten bieten, soll man zugreifen. Vorstellungen und Mindsets dürfen sich ändern. Als junger Mensch war für mich keineswegs klar, dass ich Schulleiter werde. Ich erinnere mich mindestens an die, neben irgendetwas mit Naturwissenschaften, ernsthaften Wünsche Jurist, Bibliothekswissenschaftler, Baseballfunktionär oder Feinwerktechniker zu werden. Jetzt bin ich eben Schulleiter und das auch sehr gerne, aber das war weder durchgeplant noch vorhersehbar. Meine „Karriere“ ist durchzogen von Zweifeln, Unentschlossenheit, Rückschlägen und – ja auch das – echtem Scheitern. Das war im Moment des Scheiterns natürlich hart, aber in der Rückschau kann ich jeden Moment des Scheiterns feiern, den er hat mich dort hingebracht, wo ich jetzt bin.
Scheitern ist kein Makel in einer Biografie, sondern oft ein verborgener Wendepunkt. In meinem Fall war es nie das Ende – sondern immer der Anfang von etwas Richtigerem. Vielleicht ist das die wichtigste Botschaft, die ich als Schulleiter weitergeben kann.
P.S.: Natürlich weiß ich, dass meine Erfahrungen des Scheiterns keine existenziellen Krisen waren. Umso mehr hoffe ich, dass mein Beitrag jungen Menschen ein kleiner Trost sein kann – wenn Versetzung, Studienwahl oder Ausbildung einmal nicht wie geplant laufen. Es geht weiter. Und es kann gut werden.
Danke! Einfach danke!
Ich danke Dir für die erste Inspiration.