2025-03: Warum wir einen neuen Literacy-Begriff brauchen. Eine Streitschrift?

Ich erinnere mich noch ziemlich genau an den PISA-Schock, den die erste PISA-Studie 2000 ausgelöst hat (Hintergründe zur PISA-Studie). Ich war noch Student und diese Studie war die erste Studie, die ich ganz gelesen habe, ich habe sogar, ich glaube es war im Hauptseminar Erziehungswissenschaften, ein Referat darüber gehalten.
Zu den Haupterkenntnissen, neben den schwächer werdenden deutschen Schulleistungen und der erschreckenden Abhängigkeit des Erfolgs im Schulsystem von der sozialen Herkunft, gehörte für mich definitiv der in der Studie verwendete Begriff von Literacy. Dieser konnte nicht einfach mit Lesefähigkeit gleichgesetzt werden, sondern bedeutete mehr. Literacy ist demnach:
Lesekompetenz wird bei PISA als Fähigkeit verstanden, Texte zu verstehen, zu nutzen, zu bewerten und über sie zu reflektieren sowie bereit zu sein, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um eigene Ziele zu erreichen. Lesekompetenz ist danach die Grundlage dafür, eigenes Wissen und Potenzial zu entwickeln und an der Gesellschaft teilzuhaben. Um dieser umfassenden Definition der Lesekompetenz gerecht zu werden, deckt der PISA-Test verschiedene Arten von Texten und Aufgaben in verschiedenen Schwierigkeitsstufen ab.“ (Quelle)
Es geht also nicht nur darum einen Text zu lesen, sondern weit darüber hinaus. Der Text muss auch verstanden, genutzt und reflektiert werden, ja sogar um die Fähigkeit zur Partizipation mit eigenem Wissen und Potenzial. Aber die Literacy-Fähigkeit ist an den Text gebunden, wenn auch verschiedene Arten von Texten. Dazu zählen auch so genannte nicht kontinuierliche Texte, wie Grafiken oder Tabellen.
In den letzten Jahren wurde dieses Verständnis noch weiter erweitert:
„Seit 2018 gibt es bei PISA zudem Leseaufgaben, die das Einschätzen der Qualität und Glaubwürdigkeit von Textaussagen erfordern. Zusätzlich wird bei PISA die Fähigkeit erfasst, Informationen durch das Navigieren auf Webseiten zu finden – eine wichtige Komponente des digitalen Lesens.“ (Quelle)

Es fand also eine Erweiterung in Richtung einer Digital-Literacy statt, damit ist das Erfassen von linear und nicht-linear gemischten Texten gemeint, zum Beispiel Webseiten mit Bildern und Grafiken.

In der letzten Zeit ist zusätzlich zu dieser Begriffserweiterung immer wieder einmal die Rede von Data-Literacy oder AI-Literacy. Damit kommt, neben der bis dato stattgefundenen Erweiterung des Begriffs auf der sichtbaren Ebene, noch eine weitere Dimension zum Literacy-Begriff hinzu. Es geht dabei um ein Verständnis von Prozessen, die zu variablen Ergebnissen auf der sichtbaren Ebene führen. Ich muss ein Verständnis für die Verknüpfung, Sammlung und Verarbeitung von Daten haben, die dann durch algorithmengesteuerte Sprachmodelle einer KI in einem von mir initiierten interaktiven Prozess mit dem Sprachmodell ein „personalisiertes“ Ergebnis anzeigen. Chat-GPT und Co liefern keine reproduzierbaren Ergebnisse mehr.
Dies erfordert ein wiederum erweitertes Verständnis von Literacy, eben eines das nicht nur ein für alle gleich visualisiertes Ergebnis betrachtet, sondern eines, das mit dynamischen Ergebnissen umgehen kann. Das deutet sich schon in dem oben zitierten Einschätzen der Qualität und Glaubwürdigkeit von Textaussagen an, geht aber noch weiter. Es beinhaltet Elemente von Quellenkritik aus der Geschichtsforschung und von Ideologiekritik aus der Theorie der politischen Urteilsbildung und bezieht sich auf Texte, Audios, Videos, Bildern und Grafiken aller Art, die im Zeitalter der KI (ja, ich weiß, dass der Begriff „KI“ im Kontext nicht ganz korrekt, aber gebräuchlich ist) massenhaft reproduzierbar und generierbar sind. Die Grenzen zwischen wahr und falsch, künstlich und natürlich, guter und böser Intention, Manipulation und Aufklärung beginnen zu verschwimmen und auf dieser Ebene muss sich eine neue Form von Literacy entwickeln, die neben der Dimension des Sichtbaren und Offensichtlichen auch das Unsichtbare und Verdeckte in den Blick nimmt, also einen noch stärkeren Fokus auf die Intention richtet und gleichzeitig die technische Dimension der Algorithmizität und deren Grenzen und Möglichkeiten betrachtet.
Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, ergeben sich für mich zwei wesentliche Erkenntnisse:

  1. Das Verständnis von linearen und nichtlinearen Texten wird um eine Ebene ergänzt, nennen wir sie post-lineare Texte, deren sichtbare Ebene nicht mehr statisch ist, sondern variabel, weil mit Big-Data KI-generiert. Das macht das Lesen von Informationen noch schwieriger und ist Teil der wachsenden Herausforderungen, mit denen wir in unserer Welt lernen müssen umzugehen.
    Historisch gesehen wird unser Leben körperlich immer weniger anstrengen, geistig aber dafür umso mehr, weil der Komplexitätsgrad unseres Weltverständnisses immer größer wird.
  2. Das hat unmittelbaren Einfluss auf unseren Bildungsbegriff und damit auf die Art und Weise, wie wir Schule machen. Der Umgang mit Daten und Informationen lässt sich immer schlechter in Fächern kategorisieren und kanonisieren. Reines Wissen steht in riesigen Mengen zur Verfügung, man geht davon aus, dass sich die Menge der wissenschaftlichen Erkenntnis alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt. Das ist für einen einzelnen Menschen schier unfassbar. Dieses Wissen steht aber in großen Teilen digital zur Verfügung und lässt sich mit und ohne Hilfe von KI recherchieren. Problematisch ist hierbei allerdings, dass, wie oben beschrieben, die Qualität der Informationen mit fächerübergreifenden Kompetenzen kritisch hinterfragt werden muss. Das ist es, was wir in Schulen lernen und lehren müssen. Wie lese ich die Flut von Wissen und Informationen richtig? Wie kann ich diese finden, bewerten, sortieren, kategorisieren, hierarchisieren, verifizieren, kommunizieren, teilen, ablegen usw. Dafür werden Kompetenzen aus allen „klassischen“ Schulfächern gleichzeitig gebraucht.
    Dann macht aber das Lernen in Fächern und Stunden im Gleichtakt, mit Klassenarbeiten und Hausarbeiten keinen Sinn mehr. Dann müssen wir Umgang mit und Gestaltung von Wissen vermitteln. Wir müssen Lernen zu kollaborieren und zu hinterfragen, wir müssen Lernprozesse individualisieren und begleiten, um Potenziale zu entfalten. Wenn sich die Welt so rasant verändert, müssen wir in der Schule nicht nur die Vermittlung von Kompetenzen, und ja natürlich auch noch Wissen, in den Blick nehmen, sondern auch Resilienz und Salutogenese. Wir müssen lernen in einer VUCA- und BANI-Welt zu leben und zu lernen und uns auf eine Zukunft vorzubereiten, die noch nie so unvorhersagbar war, in der Unsicherheit als Lernchance begriffen wird und Ambiguitätstoleranz eine zentrale Kompetenz im Bereich der Literacy ist (vgl. dazu Isabella Buck, vor allem den Schluss).

Schlussbemerkung
Dieser Text ist sperrig, das ist mir klar. Er ist auch etwas wirr und vielleicht nicht immer ganz nachvollziehbar. Er scheint mir auch noch nicht fertig, wahrscheinlich arbeite ich noch weiter daran. Daher ist Feedback natürlich sehr willkommen.
Der Text ist mir aber, und das gilt für einige meiner Blogbeiträge, persönlich wichtig, weil er mir hilft Gedanken zu strukturieren und auszuformulieren. Er hilft mein persönliches Weltbild zu modellieren und zu strukturieren und ist damit ein Mosaikstein meines Blogs, in dem ich nach und nach ein hoffentlich im konsistenteres Gesamtbild eines Gesellschafts- und Bildungsbegriffs entwickle, der mich meinem Ziel, der Entwicklung eines Bildungsmodells für das 21. Jahrhundert, näher bringt.

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