2023-04: Verlieren wir unsere Kinder 2.0?

Ich empfehle immer wieder das aufrüttelnde Buch von Silke Müller, der Schulleiterin der Waldschule Hatten und niedersächsischen Digitalbotschafterin, die nach der Veröffentlichung des Buches zurecht in vielen Talkshows, Podcasts oder Zeitungsartikeln gehört wurde. In dem Buch „Wir verlieren unsere Kinder“ aus dem Droemer-Verlag geht es um das, was unsere Kinder in den sozialen Medien und auf ihren Smartphones erleben, was die meisten Eltern nicht mitbekommen und auch nicht monitorieren und das darin steckende Gefährdungspotenzial. Es geht dabei um Gewalt, Pornografie und Mobbing, dem die Kinder ausgesetzt setzt. Eigentlich sollte das Buch Pflichtlektüre für alle Eltern sein, die ihrem Kind Zugang zu Smartphones und Internet gewähren.
Seit ich gestern das Interview mit Christer Mattson auf SPON gelesen habe, denke ich, dass wir die Ausführungen von Silke Müller um einen wichtigen Aspekt erweitern müssen. Nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, aber erst recht seit den Terrorattacken der Hamas auf Israel wird deutlich, welche Rolle soziale Medien bei der Verbreitung von Propaganda und Fakenews spielen. Wenn man jetzt noch berücksichtigt, dass Jugendliche zunehmend ihre Nachrichten aus eben diesen Quellen beziehen und „klassischer“ Journalismus immer weniger Beachtung findet, wird deutlich, welche Gefahren auf uns zukommen, nämlich eine weitere Polarisierung der Gesellschaft, ein aggressiverer und verflachender Diskurs, also mehr Konflikt- und Gewaltpotenzial, befeuert durch Propaganda, Populismus und Verschwörungstheorien.
Man braucht ja nur mal „soziale Medien als Nachrichtenquelle für Jugendliche“ in eine Suchmaschine einzugeben, um einen Eindruck von diesem Wandlungsprozess zu bekommen.
Was also tun?
Wir müssen endlich in den Schulen den Auftrag zur Medienbildung in einer Kultur der Digitalität ernst nehmen und mit den entsprechenden Ressourcen ausstatten. Die Lehrkräfte müssen verbindlich und flächendeckend geschult werden. Das ist keine Frage eines Faches, sondern eine Querschnittsaufgabe, wie das Lesen. Lesen findet in allen Fächern statt und ein kompetenter Umgang mit sozialen Medien gehört zu einer zeitgemäßen Lesekompetenz dazu, nämlich zur digital-literacy!
Wenn wir dieses Problem nicht ernst nehmen, verlieren wir nicht nur unsere Kinder, sondern auch unsere Demokratie. Das zu verhindern sollte uns jetzt jede Mühe und jeden Aufwand wert sein!

Ergänzungen nach Erstveröffentlichung:

In diesem Kontext auch interessant: https://www.schulmun.de/2023/11/30/newsletter-06-01-12-2024/.

Eine seriöse Studie dazu gibt es natürlich auch: https://www.stiftung-nv.de/de/publikation/quelle-internet-digitale-nachrichten-und-informationskompetenzen-der-deutschen.

Nicole Diekmann in ihrer Kolumne auf T-Online zum Thema:
https://www.t-online.de/digital/kolumne-nicole-diekmann/id_100265954/wie-kinder-auf-tiktok-durch-hamas-propaganda-radikalisiert-werden.html

Interessanter Artikel zu Propaganda und Fakenews auf Zeit.de:
https://www.zeit.de/digital/internet/2023-11/nahostkonflikt-desinformation-propaganda-israel-gaza-krieg
Der Artikel zeigt die erschreckende Komplexität, mit der wir es mittlerweile zu tun haben, Zitat: „Was ist echt, was ist neu, was alt, was manipuliert, was KI-generiert? Es ist oft schwer zu beurteilen, womit man es zu tun hat“, sagt Bösch. Seine jüngste Analyse widmet er einem gerade aufkommenden Phänomen – einer proisraelischen Desinformationsstrategie, die mit dem Wort Pallywood beschrieben wird, zusammengesetzt aus den Wörtern palestine und Hollywood. Dabei handelt es sich um Videos oder Beiträge, die so tun, als würden sie Lügen von palästinensischer Seite entlarven. Dabei sind diese Behauptungen selbst eine Lüge.“

Interessanter Beitrag von Krautreporter (hinter Paywall, aber der kostenlos lesbare Anfang bringt das Problem gut auf den Punkt): https://krautreporter.de/5199-die-teenie-querdenker-innen?shared=50f8d233-630b-4f5a-83be-a78c2d488303&utm_campaign=share-url-21813-article-5199&utm_source=threads.net.

Auch interessant in diesem Zusammenhang die PISA-Sonderauswertung „Lesen im 21. Jahrhundert: Lese- und Schreibkompetenzen in einer digitalen Welt“, die OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher im Mai 2021 vorgestellt hat: https://www.oecd.org/berlin/presse/pisa-sonderauswertung-lesen-im-21-jahrhundert.htm. Es ist davon auszugehen, dass sich die Lage seither verschärft.

Auch hier wird das Problem deutlich, dieses Mal im Zusammenhang mit Rechtsextremismus: https://www.news4teachers.de/2024/01/wir-haben-es-generell-mit-einer-aggressiveren-elternschaft-zu-tun-wie-der-neue-schulleiter-in-burg-gegen-rechtsextremismus-ankaempft/.
„Den gewaltigsten Einfluss haben aber die sozialen Medien, viele Kinder und Jugendliche hinterfragen nicht, was sie auf TikTok sehen, können zwischen Wahrheit und Fake-News nicht unterscheiden.“ so der neue Schulleiter in Burg.

Weitere Daten liefert: https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/digital-news-report/2023.