Liebe Leserinnen und Leser,
manchmal sind es die beiläufigen Fragen, die sich im Kopf festsetzen.
„Magst du nicht einen Beitrag für den Blog schreiben – aus Sicht des Stellvertreters?“ fragte mich mein Schulleiter vor einigen Tagen.
Mein erster Gedanke? „Jetzt? Sein Ernst? Vielleicht in den nächsten Ferien…?“ Die Liste der anstehenden Aufgaben glich eher einem Buch als einem Zettel.
Und doch blieb die Frage in mir hängen. Einige Tage später saß ich in der Bahn – zwei längere Fahrten. Stunden, in denen sich Gedanken lösen können, während draußen Felder, Wälder und Bahnhöfe vorbeiziehen. Stunden, in denen man nicht nur die Landschaft an sich vorbeigleiten sieht, sondern auch Pläne schmiedet, Dinge reflektiert und Fragen nachhängt.
Immer wieder tauchten sie auf: Bilder meines Schulalltags. Unterrichtsverteilung. Stundenpläne. Die bevorstehende Dienstversammlung. Und über allem die Frage: Wie wird sich die Weibelfeldschule weiterentwickeln?
Seit 2006 bin ich Teil der Schule. Alles begann mit einem Orientierungspraktikum zu Beginn meines Studiums. Als ehemaliger Schüler eines klassischen Gymnasiums war mir die Welt einer Gesamtschule völlig fremd. Doch schon nach kurzer Zeit war ich fasziniert von der Vielfalt, der Unterschiedlichkeit, dem gemeinsamen Lernen unter einem Dach – trotz ganz verschiedener Ausgangspunkte.
Viele Jahre habe ich in der Kinder- und Jugendarbeit in Kirche und Sportverein verbracht. Diese Zeit hat meinen Blick geschärft, mich gelehrt, früh über den Tellerrand zu schauen und Bildung nicht nur aus der Perspektive des Klassenzimmers zu denken.
Die Weibelfeldschule habe ich aus fast allen Perspektiven kennengelernt: als VSS-Kraft (früher „U+“), im Referendariat, als Lehrkraft, Stufenleiter und nun als stellvertretender Schulleiter. Hätte mir das vor zehn Jahren jemand prophezeit, ich hätte wohl herzlich gelacht. Heute aber kenne ich wohl jeden Winkel des Hauses wie meine eigene Hosentasche.
Mein Supervisor hat es einmal so formuliert: „Der Schulleiter ist der Außenminister, der Stellvertreter der Innenminister.“
Das trifft es ziemlich genau. Während der Schulleiter die großen Linien nach außen vertritt, kümmere ich mich um das Innenleben: Unterrichtsverteilung, Stunden- und Vertretungspläne, Personalfragen, Budget, Ganztag.
Kurz gesagt: Ich halte das operative Geschäft am Laufen. Doch genau hier beginnt für mich auch Schulentwicklung – nicht in fernen, wolkigen Zukunftsvisionen, sondern in klaren, konkreten Aufträgen für das Hier und Jetzt.
Visionen haben einen schönen Klang. Aber die Realität verändert sich schneller, als man manchmal denkt. Was heute noch Sinn ergibt, kann morgen schon überholt sein. Zu allgemeine Visionen wirken beliebig, zu konkrete können durch veränderte Rahmenbedingungen rasch an Relevanz verlieren.
Darum glaube ich: Wir brauchen weniger ein perfektes Zukunftsbild, kein Wunsch einer Utopie, sondern smarte Ziele. Meilensteine, die erreichbar sind und gemeinsam gefeiert werden können.
So kann man auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten, nächste Schritte gehen, behält Raum für Anpassung und stellt die entscheidende Frage: Was tun wir jetzt?
Hier passt für mich das biblische Bild vom Senfkorn:
Ein Mann sät das kleinste aller Samenkörner auf seinen Acker. Es ist winzig, unscheinbar. Doch mit Zeit, Nährstoffen und Licht wächst es zu einem großen Baum heran, der alle anderen Pflanzen überragt. In seinen Zweigen finden sogar die Vögel des Himmels Platz.
Schulentwicklung funktioniert genauso: Wir müssen das kleine Korn säen, hegen und pflegen. Wir brauchen Geduld, Ausdauer und ein klares Ziel – so wie Pflanzen dem Licht entgegenwachsen. Der Baum entsteht nicht über Nacht, sondern durch stetige und vor allem verlässliche Arbeit.
Bevor wir über Entwicklung sprechen, müssen wir uns bewusst machen, welche Rolle wir als Lehrkräfte im Leben der Schülerinnen und Schüler spielen.
Denken Sie an Ihre eigene Schulzeit zurück: Vielleicht fällt Ihnen sofort ein Geruch im Gebäude ein, ein Klassenraum, ein Ausflug, ein bestimmtes Gespräch. Und mit Sicherheit gibt es ein paar Lehrkräfte, die Sie bis heute nicht vergessen haben – im Positiven wie im Negativen.
Wir prägen junge Menschen weit über den Unterricht hinaus. Wir begleiten sie in einer entscheidenden Phase ihres Lebens. Diese Verantwortung kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
Der Jesuitenpater Alfred Delp, der von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, formulierte einen Satz, der mich seit vielen Jahren begleitet:
„Wenn durch einen Menschen ein wenig mehr Liebe und Güte, ein wenig mehr Licht und Wahrheit in der Welt war, dann hat sein Leben einen Sinn gehabt.“
Für mich ist das mehr als ein schönes Zitat – es ist ein Kompass. Äußere Strukturen wie Gesetze, Verordnungen und Prüfungsordnungen sind wichtig. Aber sie allein bringen weder Bildungserfolg noch einen echten Schulabschluss. Entscheidend sind Haltung, Begleitung und der gemeinsame Weg.
Stellen Sie sich nun eine Kutsche mit vier Pferden vor. Wenn jedes in eine andere Richtung zieht, zerreißt es die Kutsche – oder sie bewegt sich keinen Zentimeter.
So ist es auch mit Schulentwicklung. Unsere Aufgabe als Leitung ist es, diese Kräfte zu bündeln, ihnen eine gemeinsame Richtung zu geben und das Ziel im Blick zu halten. Erst dann kann sich die Kutsche wirklich in Bewegung setzen.
Gute Schulentwicklung lebt nicht von starren, in Stein gemeißelten Zukunftsvisionen. Sie lebt davon, dass wir im Hier und Jetzt die richtigen Dinge tun – konsequent, gemeinschaftlich, mit klarem Blick und der Bereitschaft, Kurskorrekturen vorzunehmen.
Aus einem kleinen Senfkorn kann ein großer Baum werden, unter dessen Ästen viele Platz finden – wenn wir ihn pflegen, ihm Zeit geben und gemeinsam daran arbeiten.